Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart. Florian Juterschnig

Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart - Florian Juterschnig


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      Elisa schnappte sich den Koffer und begann, Wäsche hinein zu stopfen.

      „Ihr kommt nach?“

      „Ja, verdammt, jetzt hau endlich ab!“

      Er drängte Elisa über den Flur, schon war sie aus dem Schlafzimmer hinaus auf das schmale Zwischendach gestiegen und sprang bei der ersten offenen Luke in den Dachboden des gewaltigen Hinterhauses.

      „Aufmachen, oder wir wenden Gewalt an!“

      Richard öffnete, und zwei bullige Beamte stürmten herein. „Hinsetzen, aber sofort! Die Frau auch!“

      Einer der Beamten zerrte die kranke Mutter an den Tisch.

      „Wo ist die Schwester! Heraus! Sofort!“

      Richard blickte zu Boden und hüllte sich in Schweigen.

      Maggy war die Prinzessin aus ihren Träumen. Zumindest hätte sie es sich wieder einmal gewünscht. Der Ballsaal war voller feiner Menschen, es gab ein herrliches Buffet und junge Gardeoffiziere, die zum Tanz baten. Sie war leider zu klein, sonst hätte sie sofort eingewilligt und mit einem ihrer Helden getanzt. Ausnahmsweise hatte Maggy sich einmal von Anne getrennt und wanderte alleine, nur mit einem Glas Saft bewaffnet, durch die Säle.

      Die eleganten Torbögen von einem Raum in den nächsten, die alten, schon etwas abgeblätterten Fresken, das waren jene Einzelheiten, die sie so liebte. Was für eine Mühe mit der Blumendekoration man sich erst gegeben hatte!

      Sie nahm neben dem großen Marmorlöwen auf der Treppe Platz, um wieder die Leute zu beobachten.

      Den viel zu dicken Herrn Admiral, die goldbehangene, reiche Alte und den armen Kellner, der ihr gerade den Wein übers Kleid geschüttet hatte.

      Sie lauschte der Kapelle und vernahm dabei ein dumpfes Gegröle aus der Branntweinschenke.

      „Margaret, um Gottes Willen!“ Schwester Edda riss sie hoch.

      „Du sollst doch nicht immer auf dem Boden herumrutschen wie irgendein Kind von der Straße. Du bist Akademiemädchen. Lern dich auch so zu benehmen! Mach dich im großen Saal nützlich, wir brauchen noch ein zweites Ehrenspalier. Die Herren Botschafter kommen gleich.“

      Maggy schämte sich ein wenig, gab ein undeutliches Jawohl zurück und marschierte doch sehr motiviert los.

      Sie stand an der Straßenecke zum Kapistranring, das große blaue Haus schon im Blick. Plötzlich wurde sie unsanft zu Boden gerissen. Bevor sie einen Ton herausbrachte, lag sie bäuchlings im Unrat einer dreckigen Seitengasse. Wilhelm kniete auf ihr. Verdutzt drehte sie sich um und warf ihn ab. Er hielt sie zurück.

      „Hör auf, verdammt, es ist zu spät. Wir waren zu spät. Sie kamen kurz vor uns. Wir wissen nicht, ob jemand noch drinnen ist. Wer baut hier jetzt Mist?“ Lotte ließ sich an der kühlen Backsteinmauer hinab sinken.

      „Ich werde mit euch mitgehen müssen, es war heute einfach viel zu viel. Wir sind doch ganz normale Menschen, wir können weder gegen die Polizei noch gegen die Armee bestehen. Wir sind nicht in irgendwelchen Abenteuerromanen. Wo soll das hinführen? Von wegen Widerstand!“

      Wilhelm gab ihr eine Wegbeschreibung, und nachdem sie sich stundenlang auf dem Dachboden der alten Feuerversicherung versteckt hatte, schlich sie durch die Dämmerung. Der Weg führte sie durch schäbige Wohnviertel am Rande der Großindustrie genauso wie durch nette Vorstädte. Schließlich erreichte sie das vereinbarte alte Kaufhaus und erfuhr ganz nebenbei, dass man sich keinerlei Gedanken gemacht hatte, wie denn dieser Widerstand nun aussehen sollte, außer der Idee, ab und zu ein Propagandaplakat abzureißen.

      Aber immerhin: Zumindest Elisa hatte ihnen brauchbare Ideen hinterlassen, und so liefen in dieser Nacht einige Gestalten durch die Innenstadt von Smarberg. Sie zerschnitten und zerrissen Anschlagtafeln, legten große Äste auf die Eisenbahnschienen der Fernzüge und schossen das eine oder andere Fenster ein. Vor der Volkspolizei hatten sie keine Angst.

      Der Großteil des Personals war samt Ausrüstung an die Front gekommen, und nur eine äußerst dürftige Truppe hatte mit Teilen der Reserve und der Feldgendarmerie den Auftrag, die Stadt zu schützen. Seit Wochen schon zogen Plünderer und Einbrecher herum und machten nachts die Gegend unsicher. Lotte verschwendete keine weiteren Gedanken daran, und vor dem einzigen, unbewaffneten Polizisten, dem sie in die Arme liefen, rannten sie schnellstens wieder davon. Richard und Wilhelm beschlossen, einfach zum Hafen zu gehen, ein paar Mal in die Luft zu schießen und wieder zu verschwinden, bevor eine halbe Kompanie Marinesoldaten verwirrt und chaotisch aus der Kaserne gelaufen kam.

      Auch Lotte genoss dieses neue Freiheitsgefühl. Nur die Freiheit der Gefühle war einen Kampf wert, kein Staat und kein Krieg.

      Die Frage war eben, wie weit man am Ende gehen würde. Ein paar Scheiben einzuschlagen und Plakate aufzuhängen schien durchaus machbar, aber dennoch hatte sie permanent die Angst, erwischt zu werden. Lotte etwa wusste, dass sie die Bombenanschläge und Attentate, von denen Richard derweil sprach, sofort vergessen konnten. Es war unrealistischer Wahnsinn, was dieser vom Krieg faszinierte Junge plötzlich alles anzustellen gedachte.

      Wilhelm zitterte vor Nervosität, skeptische Blicke wurden ausgetauscht. Sie nickte nur mehrmals abwesend, bevor er mit einem Dietrich die Ladentür knackte. Ein eigentümlicher Geruch aus Gemüse, Obst und Seifenlauge schlug ihnen entgegen. Still lag der kleine Verkaufsraum vor ihnen. Mit einem Satz war Wilhelm schon über den Tisch und begann, die Registrierkasse zu untersuchen.

      Lotte schlich durch den schmalen Raum, musterte einige Waren und riss das große Plakat, auf dem die Lebensmittelkarten erklärt waren, herunter. Sie vernahm ein ohrenbetäubendes Knallen und Klirren, Glas zerbrach hinter ihr. Wilhelm warf wie wild Flaschen und Konservendosen aus den Regalen und steckte in seine Taschen, was nicht zu Bruch ging. Im Haus gegenüber gingen Lichter an, da waren die beiden schon wieder auf der Straße und um die Ecke gelaufen. Erst einige Querstraßen weiter hielten sie an. Er grinste nur fröhlich und zählte stolz die erbeuteten Waren.

      „Ich finde das überhaupt nicht lustig, die Waren gehören jemandem, und den Krieg verkürzt es auch nicht, wenn wir irgendeinem kleinen Laden die Sachen kaputtschlagen.“

      „Jetzt sei mal nicht so, du weißt genau, dass Elisa das jetzt am Allermeisten braucht, und sonst kriegt die Waren ja auch nur irgendein Bonze“. Er hielt ihr eine Dose mit eingelegtem Hering hin. Lotte dachte daran, was ihr Elisa gesagt hatte, dass jeder kleine Schritt, sei es nur ein Flugblatt, das die Leute etwas beschäftigte, oder eine eingeschlagene Scheibe genauso die Gesamtkraft schwächte wie Luftangriffe und Offensiven.

      So kam es zum „Rausch der Gefühle“ an diesem Abend. Als die anderen schon lange wieder im Versteck untergekrochen waren, liefen die beiden mit einem absoluten Hochgefühl durch die Stadt. Sie rissen Plakate herunter, traten Autotüren ein, verdrehten weiter Schilder.

      Den Versuch, den Expresszug am Bahnhof abzukoppeln, ließ man dann doch bleiben, nicht zuletzt wegen der Wachen. Stattdessen nahm Wilhelm einen Besenstiel und schlug einen Trafokasten kaputt. Lotte amüsierte sich über diese kleinen, doch vorhandenen Möglichkeiten, Unruhe zu stiften.

      Bester Laune rief sie mehrmals die Volkspolizei und die Feuerwehr zu falschen Positionen und schlug danach die Telefonzelle entzwei. Irgendwann hatten sie dann aber plötzlich doch eine ganze Truppe Volkspolizisten hinter sich, und nur mit Mühe gelang die Flucht über die Dächer und quer durch einige Gärten. Auf und ab und mitten durch Gerümpel und Gemeinschaftsbeete war die Hatz direkt ein Spaß, obwohl beiden das Herz fast bis zum Hals schlug. Als man sie schon fast abgehängt glaubte, stürzte Lotte an einer dunklen Stelle und fiel fast zwei Meter hinab, in einen großen Gemüsegarten hinein. Benommen blieb sie liegen. Wilhelm hastete weiter durch die Dunkelheit, bis seine Reise wenig später in einem dicken Dornbusch endete. Er hielt inne, fühlte die aufsteigende Hitze, versuchte seinen Atem wieder abzubremsen. Nur knapp vor seinem Auge hingen, er glaubte es kaum, Erdbeeren. Hastig stopfte er ein paar davon in seinen Mund und befreite sich. Sie waren im Innenhof von einem der alten Gemeindebauten gelandet, die die frühere Regierung hatte bauen lassen. Große, saubere Wohnungen für jene Arbeiter, die jetzt an der Front im Schlammloch saßen.


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