Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart. Florian Juterschnig
der Zug seinen Weg vom Hafen durch die Altstadt, bog auf die große Hauptstraße ein, Würdenträger zogen mit Fackeln hinterher.
Parteimädchen aus Smarberg trugen kleine Polster mit Orden und Bildern. Die Regimenter der Stadt standen Spalier für ihre Kameraden. Die Bevölkerung säumte die Straßen, um ihren Helden einen symbolischen letzten Gruß zu erweisen. Richard stand mit seinen Kameraden in der vordersten Reihe, als die Särge vorbeizogen. Man fühlte, dass es heute am Vorabend der großen Feierlichkeiten mehr war als nur eine formale Würdigung der Toten.
Irgendetwas von der Begeisterung der letzten Jahre war zerbrochen. Man fühlte sich nicht mehr wie das großartigste Volk auf Gottes Erden. Man vergaß, dass der Krieg einst mit Blumenschmuck und Jubelgeschrei begonnen hatte. Mehr und mehr Länder hatten sich von Bergen abgewandt. Jetzt war eine ganze Armee zuerst bedrängt, dann eingekesselt und schlussendlich vernichtet worden.
Das hätte vor ein paar Monaten noch niemand geglaubt. Manch einer, der an diesem Abend in der Menge stand, wurde das Gefühl nicht los, dass man bald noch viel mehr zu Grabe tragen würde. Die große Nation fand ganz schnell zu ihren Wurzeln zurück.
Für einen Moment schien es, als wäre die glorreiche Republik der Freiheit bereits dahin.
Niemand wollte reden, nur das alte Zitat „Im Frieden begraben die Söhne ihre Väter, im Krieg begraben die Väter ihre Söhne“, ging Richard plötzlich nicht mehr aus dem Kopf.
In ihm stieg eine irrsinnige Wut über diesen unnötigen, brutalen Krieg und seine Folgen auf.
So war es auch nicht verwunderlich, dass Richard und Wilhelm den ersten, der versuchte, in der Unterkunft die Stimmung mit dummen Witzen aufzuheitern, einstampften. Die engen Zimmer, der seelisch unglaublich harte Tag und zu viel Alkohol brachten die Stimmung jedoch sofort zum Eskalieren. Richard und einige Freunde gerieten mit einer zweiten Gruppe aneinander, und schnell lagen 20 von Smarbergs angeblich tapfersten Jugendlichen wild verkeilt am Boden und schlugen wie von Sinnen aufeinander ein. Als plötzlich ein Offizier eintrat, sprangen sie sofort in Reih und Glied zurück, erstarrten zu Eis.
Major Gösch schrie nicht, dafür fehlte ihm die Kraft.
Er schwieg nur und murmelte etwas von „Und ihr wolltet Soldaten sein“, bevor er mit bewusst abgewandtem Blick die Räumlichkeiten verließ. Es setzte für jeden ein Urlaubsverbot. Auf Richard blickte Gösch besonders verachtend und gekränkt. Er hatte die junge Gruppe um ihn immer besonders gefördert und protegiert, da er wohl große Erwartungen in sie gesetzt hatte. Richard musste sich morgen so früh, als es die übrigen Verpflichtungen zuließen, in seine Kanzlei begeben, warum, das ließ er offen.
Elisa hatte am besagten Abend völlig andere Probleme. Sie hatte nicht wie Maggy die Chance, ein für Kinder ungewohnt festliches Abendessen in einem vornehmen Hotel zu genießen und gut zu schlafen. Nein, Elisa wurde in einem Akt der Verzweiflung an ihre Zeit an der Westfront erinnert, während sie vergeblich auf einen Doktor wartete.
Umgeben von angespuckten und angerotzten Leinen lag die Mutter stark fiebernd und längst schon nur mehr Wirres redend auf einem Hundslager direkt neben dem Küchenofen.
Elisa bemühte sich, selbst schon von Kopf bis Fuß angespuckt, zwischen Ölwickeln und heißen Tüchern zumindest noch irgendeine brauchbare Medizin zu finden, die Besserung versprach. Ob es vom üblichen Stadtdunst oder von einem Virus kam, war dahingestellt, aber der Zustand von Mutter wurde nicht besser, und der Aufenthalt im nasskalten Polizeikarzer hatte sein Übriges getan. Immer wieder wischte Elisa sich die schmierigen Haare aus dem Gesicht und versuchte, die fast leblos gehustete Mutter aufzurichten, wenn sie wieder von einem heftigen Anfall fast aus dem Bett geschüttelt wurde. Elisa fragte sich ein weiteres Mal, wer hier eigentlich für wen ein Opfer zu bringen hatte.
Ob der nächste Tag eine andere positive Wahrheit zeigte oder nur eine groteske Farce gegen das Unvermeidliche war, musste jeder Bürger der Republik, der sich die Schau gab, am Ende selbst wissen.
Die Stadt war in einem Freudentaumel über den großen Jahrestag der Gründung. Jener Tag, an dem aus dem schwach gewordenen Königreich Bergen die Republik der Freiheit entstanden war. Eine Revolution, die nur Gutes versprochen hatte. Alle Häuser waren beflaggt, mit Wappen und Bannern in den Fenstern geschmückt.
Neben dem Kriegsministerium ein gigantisches Staatswappen aus Papierblumen, daneben eine Tribüne, von der Hunderte Ehrengäste einschließlich der Regierungsspitze hinab winkten. Entlang der Hauptstraße Dutzende Stände mit Postkarten, Getränken und Essen in Hülle und Fülle.
Auf der großen Straße selbst ein Festumzug. Zuerst die Armee, welche Flieger, Panzer, Kanonen und Soldaten in verschiedenen Formationen aufbot. Dahinter marschierten diverse Ehrengäste, Vertreter der zig Parteiorganisationen und Wagen mit Schaustellern. Die meisten repräsentierten eine Berufsgruppe oder zeigten ein Ereignis aus der langen Geschichte des Landes. Kreativ war jener Wagen, der direkt hinter dem mit den Revolutionsszenen fuhr. Er gehörte den Friseuren und Kosmetikerinnen und zeigte einen riesigen Damenkopf in einer Waschmuschel. Die Stadt- und Militärkapellen standen auf Podesten über der Parade und spielten einen schwungvollen Marsch nach dem anderen. Von überall flogen Konfetti, kleine Bonbons und Papierrosen. Heute, so schien es, scheute man keine Kosten und Mühen. In der ganzen Stadt gab es weitere Konzerte, Führungen und Vorträge. Die Gründung des Staates feierte man stets mit Freude, diesmal wohl auch als wissentlich letzte Jubelfeier vor dem großen Abgang.
Direkt hinter den Parteimädchen aus Smarberg marschierten jene, die aus Schloss Warton gekommen waren. Maggy durfte wieder die Standarte tragen und fühlte sich in ihrem diesmal blauen Uniformhemd inmitten von all diesem Trubel so wohl wie selten. Märsche, Uniformen und Umzüge hatten es ihr immer schon angetan, ihr großer Stolz war nicht verwunderlich. Sie hob ihre Standarte in den Himmel, als sie stoppten, um den Großen Vorsitzenden zu grüßen.
Die Parteimädchen waren seine persönliche Erfindung, genau wie die Soldaten hatten die Mädchen auf den hageren alten Herren geschworen, der freundlich, aber reserviert von der Tribüne herab salutierte. Maggy war ergriffen. Ihr Auftritt. Ihr Land. Ihre Schule. Ihre Familie. Ihre Stadt. Ihr persönliches Glück.
Das triste Kellerabteil in der Bezirksstelle der Parteijugend wurde durch das vergilbte Porträt des Präsidenten nicht unbedingt aufgebessert. Hier saß Elisa an jenem Nachmittag mit ihren Kolleginnen zusammen, und es wurde über Administratives gebrütet.
Es ging vor allem darum, was man den Parlamentariern, die man bald besuchen würde, präsentieren sollte. Elisas Nerven waren schon knapp an der Grenze angelangt.
Die arme Mutter lag immer noch von Fieberattacken gequält zu Hause, und doch hatte man sie unter Androhung von Konsequenzen herbestellt, weil man sie ja unbedingt brauchte.
Neben dem hundsmiserablen Gewissen, das sie plagte, hatte Elisa Mühe, dem dargebotenen Unfug auch nur ansatzweise zu folgen. An und für sich sollte es in einer geplanten Rede um Kampfeswillen, Anstand und den glühenden Willen der Truppe gehen.
Elisa allerdings, die zwischenzeitlich als Rednerin gehandelt wurde, bekam immer mehr das Gefühl, mit leerem Gewäsch zu arbeiten. Sie hörte fassungslos ihren Kolleginnen zu, die ständig von „Schlachten gewinnen“ und „Überzeugungsarbeit leisten“ schwadronierten. Kriegsbedingt tagten dieserart Gremien nur mehr selten, weshalb die besprochenen Themen erst recht konträr zur alltäglichen Not erschienen.
„Wir sollten einmal, denk ich, vor dem Parlament den Krieg ansprechen“, schlug Elisa vor.
„Den Durchhaltewillen und den Mut unserer Truppen?“
„Lieber den Zustand der Truppen.“
„Du meinst, dass wir zu einer neuen Stoffspende aufrufen?“
„Wir sollten eher über das Kriegsende nachdenken.“
„Also du meinst, wir sollen den Glauben an den Endsieg beschwören und uns dann Nachkriegspläne überlegen?“
„Sophie, bist du vielleicht ein wenig naiv?“ „Nein, warum denn?“
So viel Dummheit hatte sie selten gehört, aber sie war auch eine der wenigen aus ihrer Gruppe,