Aus der Gosse in den Porsche. Peter Götz

Aus der Gosse in den Porsche - Peter Götz


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der zwischendurch immer mal wieder in ein Krankenhaus eingewiesen wurde.

      Wir lebten in sehr einfachen Verhältnissen, und die Unterstützung vom Sozialamt reichte hinten und vorne nicht. Mitte des Monats, wenn das Geld endgültig ausgegangen war, wurde meine Oma regelmäßig krank. Sie lag dann im Bett und Opa, Onkel Oliver und ich mussten zusehen, wie wir uns selbst versorgten.

      Und doch fühlte ich mich glücklich mit dieser „manchmal kranken“ Großmutter, dem pflegebedürftigen Opa, dem Onkel, den ich als Bruder ansah, und in dieser ärmlichen Wohnung, in der der Ofen im Badezimmer befeuert werden musste, um warmes Wasser zu haben.

      Meiner Oma schien es egal, ob ich rechtzeitig zur Schule ging, Hausaufgaben machte und wie ich den restlichen Tag rumbekam. Doch sie achtete darauf, dass ich den Menschen in unserem Umfeld respektvoll begegnete. Anfangs sah ich keinen Sinn darin, die Nachbarn im Haus zu grüßen. Ich kannte die Leute ja kaum. Doch da bekam ich was zu hören: „Du hast dich zu benehmen, verstehst du? Guten Morgen, guten Tag, Hallo … das ist das Mindeste, was ich von dir verlange. Sonst kriegst du es mit mir zu tun!“ Sie rollte das R, wie es nur ein Franke kann, und sprach das K so weich aus, dass es wie von selbst die Kehle herunterrutschte.

      Ich weiß nicht, ob diese erzieherische Maßnahme mich zum Nachdenken brachte. Doch ich hörte auf, die Ratschläge der Erwachsenen grundsätzlich infrage zu stellen oder – schlimmer noch – mich gegen sie aufzulehnen. Immer öfter gab es Situationen, in denen ich die Worte verinnerlichte oder im Nachhinein dachte: Ah, der hat ja doch recht gehabt. Ich begann, die Lebenserfahrung der Älteren anzuerkennen, manchmal jedenfalls. Diese Einstellung hörte im Klassenzimmer schlagartig auf. Die Lehrer konnten mir viel erzählen. Reflexartig nahm ich meine gewohnt aggressive und ablehnende Haltung ein. Entsprechend mies waren meine Noten: Deutsch fünf, Diktat sechs, Mathematik unterirdisch.

      Einmal bekam ich eine Sieben im Diktat, weil der Lehrer sich keinen Rat mehr wusste, wie er die Aneinanderreihung völlig absurd geschriebener Worte beurteilen sollte. „Lass das zu Hause unterschreiben“, sagte er mit versteinertem Gesicht. Seine Stimme klang erschöpft, vielleicht sogar verzweifelt. Er schien sich keine Illusionen mehr zu machen, mich zu einem einigermaßen akzeptablen Hochdeutsch zu bewegen. Ich sprach den fränkischen Dialekt so aggressiv, wie ich mich den Lehrern gegenüber verhielt. Und wenn ich schrieb, ignorierte ich jeweils das T, bediente mich stattdessen des D, ersetzte P durch B und machte mit dem K, was ich wollte. Eines meiner Lieblingsworte war Schdroufzeddl. Das hochdeutsche „Strafzettel“ dagegen fand ich lächerlich. Fei gscheid bled gefiel mir ebenfalls gut, alleine schon der Widerspruch an sich, (gescheit blöd). Oder Geh kumm, gämmer (Lass uns gehen).

      Meine Oma dachte, ich wollte sie verarschen, als ich ihr das missratene Diktat mit der Note Sieben vorlegte. Trotzdem unterschrieb sie es. Sie ging wohl davon aus, dass ich es trotz schlechter Noten zu was bringen würde. Immerhin schlugen sich ihre zehn erwachsenen Kinder ja auch tapfer durchs Leben, und die meisten hatten nicht mal einen Hauptschulabschluss geschafft, sondern waren zur Sonderschule gegangen.

      Für mich spielte es keine Rolle, ob sich Oma kümmerte

      oder nicht. Regeln waren mir fremd, außer der, dass ich im Sommer zu Hause sein musste, sobald die Straßenbeleuchtung anging, und im Winter, kurz bevor es dunkel wurde. Wann ich mich schlafen legte, interessierte keinen, und ob ich frühstückte und wie ich zur Schule kam, ebenfalls nicht. Hauptsache ich schwänzte nicht. Die Hausaufgaben wurden dann wieder zur Nebensache erklärt.

      Gewohnt, früh selbstständig zu sein, kam ich alleine zurecht. Einige Freunde aus dem gleichen Viertel, die unter ähnlichen Verhältnissen aufwuchsen, konnten damit weniger gut umgehen und gerieten schon mal auf die schiefe Bahn. Andere wiederum verhielten sich ähnlich diszipliniert und zogen mich mit. Deshalb erschien ich wohl niemals zu spät zum Unterricht.

      Während ich das schreibe, kommen mir reflexartig die Erinnerungen. Wie lief damals so ein Schultag eigentlich ab? Da war zunächst der Wecker, den ich mir abends gestellt hatte und der um halb sieben Uhr morgens klingelte. Ich streckte mich ein wenig, bevor ich aufstand, ging ins Badezimmer. Hielt mich dort aber nur kurz auf, fürs Nötigste halt. Dann kochte ich Tee und schmierte mir ein Brot mit Margarine und Marmelade. Manchmal legte ich Wurstscheiben darauf. Meist am Monatsanfang, wenn Oma noch genug Geld vom Amt hatte und beim Einkaufen nicht sparen musste. Anschließend holte ich die Zeitung vom Balkon, die der Zeitungsausträger, da wir parterre wohnten, durch die Ritzen des Geländers gesteckt hatte.

      Ich las bereits als Zehnjähriger beim Frühstück die Zeitung. Jedenfalls die Überschriften der Sportseiten und der Regionalnachrichten, manchmal auch vom politischen Teil. Als ich noch bei meiner Mutter gelebt hatte, hatte ich abends die Tagesschau geguckt. Einmal war vom Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR die Rede gewesen und dass die beiden Staaten sich mit ihren Atomwaffen gegenseitig auslöschen könnten. Die blanke Angst war in mir aufgestiegen. Aber vor allem das Wort „Kalt“, mit dem ich noch nichts anfangen konnte, hatte mich erschreckt. Seitdem wollte ich wissen, wie sich das mit diesem seltsamen Krieg und den mächtigen Raketen verhielt, und wie alles weiterging.

      Um halb acht legte ich die Zeitung zur Seite, zog meine Jacke an, nahm den gepackten Schulranzen und machte mich davon. Gleichzeitig verließ Onkel Oliver die Wohnung, falls er es geschafft hatte, pünktlich aufzustehen. Anfangs ging er noch zur Schule, später dann zur Arbeit. Oma lag noch im Bett oder kümmerte sich um den kranken Opa. Meist bekam ich sie frühmorgens nicht zu Gesicht.

      Der kurze Schulweg, den meine Freunde und ich zu Fuß zurücklegten, verlief fast immer lustig. Wir hatten uns viel zu erzählen, schräge Geschichten, die wir irgendwo aufgeschnappt hatten. Nur über Hausaufgaben sprachen wir nicht, und wenn, blockte ich das Thema sogleich ab. Hausaufgaben. Hatten wir wirklich Hausaufgaben aufgehabt?

      Im Klassenzimmer angekommen, fühlte ich mich auf einmal sehr müde. Die Müdigkeit hielt während des Unterrichts an. Was interessierte mich, wie Re-gen-wet-ter getrennt wurde. Ich schrieb die Worte ja sowieso, wie ich wollte. Und im Addieren von Zahlenreihen sah ich keinen Sinn. Dabei hätte meine Oma ein Vorbild für mich sein können, sie war mathematisch hochintelligent. Nur mit dem Umsetzen in die Praxis haperte es bei ihr, was hieß, wenn sie Geld hatte, gab sie es sogleich aus.

      Der Heimweg verlief genauso lustig wie am Morgen. Wir zogen über die Lehrer her. Witzelten über bestimmte Mädchen, die unserer Meinung nach immer nur herumgackerten. Beklagten uns über den öden Unterricht.

      Wieder zu Hause, hatte Großmutter gekocht oder ich suchte mir etwas Essbares aus dem Kühlschrank zusammen. Anschließend ging ich wieder raus, auf die Straße, um mit meinen Kumpels am Spielplatz abzuhängen oder mit BMX-Rädern herumzufahren. Spätestens jetzt war ich hellwach.

      Ich mochte das Viertel, auch wenn offiziell von „sozialer Armut, niedrigem Bildungsniveau, Migrantenfamilien, Arbeitslosigkeit, schlechter Bausubstanz und relativ vielen Problemfamilien“ gesprochen wurde. Selbst von „sozialem Brennpunkt“ war in den Medien die Rede. Aber was sagte mir das? Nichts. Ich hatte hier endlich Freunde gefunden und es war mir egal, ob sie Türken, Kurden, Araber, Deutsche, Sinti oder Roma waren.

      Für mich schien alles völlig normal, und mit Begriffen wie multikulturell und Migrationshintergrund konnte ich nichts anfangen. Erst als erwachsener junger Mann erkannte ich, wie wichtig die verschiedenen kulturellen Einflüsse auf mich waren. Sie lehrten mich, respektvoll gegenüber jedem Mitbürger zu sein. Zeigten aber auch, dass Freundschaft und Toleranz ihre Grenzen hatten. Die kulturellen Einflüsse der Älteren auf die Jungen waren zu groß, als dass eine Anpassung an westliche Gepflogenheiten so ohne Weiteres akzeptiert worden wäre. Letztendlich kochte jeder sein eigenes Süppchen. Deshalb sage ich heute: „Lasst die Leute mal so sein, wie sie sind!“ Es wird noch viele Generationen brauchen, bis sich die Kulturen wirklich vermischen.

      Das Aufwachsen mit völlig unterschiedlichen Menschen hat mein Leben bereichert und mich in meiner Persönlichkeit geprägt. Vielleicht besitze ich deshalb eine so gute Menschenkenntnis, kann nach wenigen Minuten analysieren, wen ich glaube, vor mir zu haben, wie mein Geschäftspartner tickt und wie die Verhandlung enden wird.

      Ich habe von jeder Kultur etwas für mich mitgenommen, und bei vielen etwas Ähnliches


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