Aus der Gosse in den Porsche. Peter Götz
ich hin und zurück zu Fuß laufen oder mit dem Fahrrad fahren musste. Die Busverbindung war schlecht. Aus meiner Familie konnte mich niemand fahren, und ein Auto besaß meine Oma sowieso nicht.
Onkel Oliver, damals selbst noch nicht erwachsen, erledigte mit mir gemeinsam die Anmeldeformalitäten. Wir bekamen ein Formular in die Hand gedrückt, das meine Oma als Erziehungsberechtigte ausfüllen und unterschreiben musste, und dann ging es auch schon mit dem ersten Training los. Auf den langen Fußmärschen begleitete mich Andi, einer meiner Freunde aus dem gleichen Viertel. Wir gehörten zu den sozial Schwächsten, was auf den ersten Blick nicht weiter auffiel, weil wir Sportkleidung und Schuhe vom Verein gestellt bekamen. Der Unterschied zeigte sich darin, dass die anderen Jungs in dicken Limousinen gebracht und abgeholt wurden, und wir uns – wieder umgezogen – zu Fuß in unseren abgetragenen Klamotten auf den langen Heimweg machen mussten. Keine Ahnung, wie es sich bei Andi verhielt, doch ich trug die alten Sachen meiner Onkel auf, und wenn die Hosen zu weit waren, wurden sie durch improvisierte Gürtel im Hosenbund gehalten.
Was mir noch heute unbegreiflich scheint … kaum ein Elternteil kam auf die Idee, wenn es sein Kind abholte, Andi und mich ein Stück im Auto mitzunehmen oder nach Hause zu fahren. Viele wohnten nur wenige Meter von unserem Viertel entfernt. Und wenn wir dann doch einmal mitfahren durften, scheute derjenige meist den kleinen Umweg und setzte uns an der Hauptstraße ab – und das sogar auch im Winter, wenn es draußen schon finster war, was heutzutage unvorstellbar wäre. Bis auf eine Ausnahme. Der Vater eines guten Freundes brachte uns jedes Mal bis vor die Haustür, obwohl er wegen uns die längste Strecke zurücklegen musste.
Auf dem Fußballfeld geriet ich sofort in Fahrt. Wer mich bewusst anrempelte, den schickte ich zum Teufel. Und wer mit einem absichtlichen Handspiel verhinderte, dass ich in Ballbesitz kam, der konnte was erleben. Verbal. Denn ich schlug niemals zu und versuchte nach wie vor, Schlägereien zu vermeiden.
Eigentlich war ich angetreten, um im Tor zu stehen, doch der Trainer hatte gemeint, einen Torwart sowie einen Ersatzmann hätten sie schon. Wie es denn bei mir als Stürmer aussähe? In der Position wäre ich zwar auf gute Ballvorlagen durch meine Mitspieler angewiesen, um die gegnerische Verteidigung zu überwinden, doch ich könnte durch entsprechende Tore das Spiel und die Dynamik der eigenen Mannschaft aktiv mitentscheiden.
Ja, okay, warum nicht? Mir war es egal.
Zur Probe wurde ich zunächst der zweiten Jugendmannschaft zugeteilt. Wir gewannen das erste Spiel mit 8 zu 2, wovon – nach Vorarbeit durch meine Mitspieler – sechs Tore von mir geschossen wurden. Daraufhin durfte ich in die erste Mannschaft wechseln.
Ich verhielt mich aggressiv, ließ mir nichts gefallen. Nur manchmal schämte ich mich ein wenig, weil mir als Heranwachsender bewusst wurde, wie arm wir zu Hause waren. Die Jungs aus den anderen Familien dagegen schienen wohlhabend bis reich. Computerspiele gab es für mich nicht. Immerhin war ich froh, dass wir einen Fernseher besaßen. Das allererste Fernsehgerät, das meine Oma auf Raten kaufte, wirkt im Rückblick besehen ziemlich skurril auf mich. Obwohl es während meines ersten Aufenthaltes bei ihr geliefert wurde – ich war damals drei oder vier Jahre alt –, erinnere ich mich noch gut daran. Vor allem an das mitgelieferte Geldkästchen, in das wir jeweils eine D-Mark einwerfen mussten, damit es zwei Stunden lief. Einmal im Monat schaute dann jemand vorbei, um es zu leeren, und irgendwann war das Gerät abbezahlt.
Das nachfolgende Schwarz-Weiß-Gerät galt als echte Errungenschaft und wurde erst dann zum Problem, nachdem viele Zuschauer bereits in Farbe guckten und die Programme entsprechend ausgerichtet wurden. Als fußballverrückte Familie waren wir gezwungen, ständig an den Kontrasten herumzutüfteln, um die Trikots und somit die Mannschaften besser zu erkennen. Alles schien weiß-graudunkelgrau. Einzig die während der Spiele bewusst eingesetzten Schwarzweißbälle hoben sich für uns ab. Und wenn von Programm zu Programm umgeschaltet werden musste, wurde ich als lebende Fernbedienung eingesetzt. „Peter, geh mal auf Eins, das Länderspiel beginnt gleich!“ Oder „Peter, mach mal den Kontrast schärfer, man erkennt ja nix.“ Ich stand dann auf und bediente den entsprechenden Knopf. Schließlich waren die Onkel zu Besuch und die wollten den Fußballabend im Kreis der Familie ungestört genießen.
Neben meinem Freund Andi, der mich zum Fußball begleitete und noch heute einer meiner besten Freunde ist, gab es Tom, einen Kumpel aus der gehobenen Mittelschicht, sowie Max, dessen Eltern in meinen Augen sehr reich waren. Milliardäre vielleicht. So zumindest mein kindliches Empfinden. Bei ihm zu Hause zu sein, schüchterte mich ein, und zu mir nahm ich sowieso niemanden mit. Wir gehörten einer anderen Klasse an, das wurde mir schnell klar. Und doch war es auch viele Jahre später niemals mein Bestreben, in eine andere „Schicht“ zu wechseln, viel Geld zu verdienen und der Arbeiterklasse zu entfliehen. Ich wusste, wo ich hingehörte, und fühlte mich den Menschen in meinem Umfeld verbunden. Ich vermisste ja nichts. Als Bub, aus einer sozial schwachen Familie, wurde ich – wie andere Kinder aus ähnlichen Verhältnissen ebenfalls – durch eine Stiftung unterstützt. Jedes Jahr zu Weihnachten bekamen wir jeweils dreihundert D-Mark geschenkt, zur eigenen Verantwortung und um Geschenke für die Familien zu kaufen. Schule und Sportverein taten einiges, um unsere soziale Kompetenz und unser Verantwortungsbewusstsein zu fördern. Gegen die Schule sperrte ich mich lange, und erst der coole Herr K. schaffte es, mich zum Lernen zu motivieren. Dagegen verspürte ich im Sport viel eher Erfolgserlebnisse, weil mein Einsatz für das Team bei jedem Spiel anerkannt und meine Aktivität durch Tore sofort bemerkt wurde. Außerdem konnte ich mich auf dem Fußballplatz abreagieren, durfte wütend und risikobereit sein, so lange es der Mannschaft diente. Der Trainer lobte meine Stärken, schenkte mir Selbstvertrauen und lehrte mich, Respekt vor dem Gegner zu haben.
Ich höre die ganze Zeit nur mit halbem Ohr hin, will sie ignorieren, die innere Stimme, die mir zuraunt, dass ich sie erwähnen muss. Meine leicht kriminelle Phase. Doch ehrlich gesagt möchte ich viel lieber über meine Kumpels schreiben, denn einige Jugendliche aus meinem Viertel drifteten in strafbare Handlungen ab. Alex zum Beispiel, der im wahren Leben anders heißt, fing früh mit kleinen Gaunereien an, die sich mit den Jahren zu ausgebufften Delikten steigerten. Er hatte noch nie gearbeitet und niemals Sozialhilfe beantragt (aus Prinzip nicht, das hätte gegen seine Ehre verstoßen), sondern sich als Kleinkrimineller irgendwie durchs Leben geschlagen. Nach dem ich weiß nicht wievielten Delikt verurteilte ihn ein Richter, Hartz 4 in Anspruch zu nehmen, um ein Grundeinkommen zu haben, sozialversichert zu sein und endlich mit dem Verticken von Drogen aufzuhören. Ja, er wurde geradezu gezwungen, sich dem Sozialstaat nicht mehr zu verweigern, sondern Hilfe anzunehmen.
In die Sache mit dem Klassenausflug war ich nur begrenzt involviert, als Mitwisser sozusagen: Unser Lehrer hatte uns in einer Jugendherberge angemeldet, mitten im Wald. Die Natur mochte ja ganz schön sein, doch wir wollten abends unbedingt Party machen. Leider besaß keiner von uns eine Musikanlage.
Daran dachte ich, als ich frühmorgens mit meinem gepackten Koffer im Bus saß, um meine Mitschüler vor der Schule zu treffen. Noch ziemlich verpeilt, entgingen mir trotzdem nicht die Turbulenzen vor einer dieser kleinen Verkaufsstationen, die es damals noch gab, um seine Bestellung aus dem Katalog abzugeben und bestimme Produkte – meist hochwertige Elektroartikel – zu begutachten.
Was ist da los?, dachte ich und erkannte neben einem Aufgebot an Polizei, dass professionell ein Stück Glas aus der Schaufensterscheibe herausgeschnitten worden war, groß genug, um einen ansehnlichen Artikel zu entwenden. Hatte ich dort gestern nicht eine Stereoanlage gesehen?
Ich weiß nicht, an was genau ich dachte, oder ob ich eigentlich schon wusste, wer für solch einen Coup infrage kommen könnte. Jedenfalls wunderte ich mich kaum, als mich einer meiner Freunde vor der Schule abfing: „Hey Peter“, sagte er mit einem Grinsen, „wir müssen noch schnell zu mir in den Keller. Dort hab ich was, das wir unbedingt mitnehmen müssen.“
Er wohnte nicht weit entfernt und ich trottete ihm, nachdem ich mein Gepäck in der Halle der Schule abgestellt hatte, hinterher. Die nagelneue Stereoanlage, die er mir zeigte, kam mir bekannt vor. Ich stellte keine Fragen, wollte lediglich wissen, wie er und seine Kumpels die Anlage aus dem Fenster bekommen hatten.
„Na, mit Saugnäpfen halt.“
Jetzt musste auch ich grinsen. Allerdings fand ich die Musikanlage optisch seltsam. Oben befand sich ein Plattenspieler,