Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel. Hanna-Linn Hava
Der Lehrer traf die Entscheidung, es als Provokation aufzufassen. Ich teilte ihm mit, dass ich diese Entscheidung natürlich respektieren würde, er sich aber darüber im Klaren sein solle, dass dies nichts weiter als sein eigenes, von Normen gesteuertes individuelles Empfinden sei und keine allgemeingültige Wahrheit.
Danach schickte er mich doch zur Direktorin.
Damals ärgerte ich mich noch darüber. Immerhin beteiligte ich mich aktiv am Unterricht, suchte die intellektuelle Diskussion und bemühte mich offensichtlich darum, konstruktive Wege der Verständigung zu finden.
So oder so ähnlich schilderte ich dies auch der Direktorin.
Ich habe nie genau verstanden, warum gerade sie mich mochte.
Nicht einmal meine eigenen Eltern mögen mich.
Sie werden dennoch Tränen über meinen Tod vergießen. Und das wird nicht einmal ein Akt der Heuchelei sein. Aber auch keiner der Trauer um meinen Verlust, sondern eine Demonstration ihres eigenen Leides.
Schließlich ist es ein hartes Los, mit einer Tochter wie mir gestraft zu sein, die dann auch noch auf eine derartige Weise ums Leben kommt.
Genau jetzt ist der Moment da, in dem ich dabei bin zu sterben. Aber das, was ich euch erzählen will, hat bereits lange, lange davor seinen Anfang genommen.
Ich bin mir gerade nicht ganz sicher, zu welchem Zeitpunkt es klar war, dass mein Schicksal unausweichlich auf heute zusteuern würde.
Vielleicht war es der Tag, an dem ich aus der Grundschule flüchtete und versuchte, in unserem Dorfwald zu leben.
Vielleicht war es der Tag, an dem ich die zehn Frösche ausweidete und an das Scheunentor nagelte.
Vielleicht war es auch erst der Tag, an dem ich Finn traf.
Ich glaube tatsächlich, es begann bereits in dem Moment, in dem sich die Eizelle meiner Mutter und das Spermium meines Vaters trafen und beschlossen, ein Monster zu zeugen.
Aber erst ab dem Moment, in dem ich Finn traf, begann sich der unbestimmte Nebel zu einem klaren Pfeil zu verdichten, der in eine bestimmte Richtung zeigte.
Und ich folgte nur allzu willig.
Ja, der Tag, an dem ich Finn traf, ist ein guter Anfang.
Zwei
Es war kein guter Tag. Natürlich nicht.
Sobald wir vertrauter miteinander sind, muss ich das nicht mehr extra erwähnen. Für mich gab es nie gute Tage.
Noch denkt ihr, ich übertreibe maßlos. Damit seid ihr nicht allein. Mir wird seit jeher ein Hang zum Drama nachgesagt.
Aber ich bin mir sicher, dass ihr bis, sagen wir mal, Seite 107, längst verstanden habt, wie nüchtern ich im Innersten bin. Die Dramatik liegt in der Wahrnehmung meiner Umgebung begründet, nicht in meiner Absicht.
Wenn das bisher keinen Sinn macht: nicht weiter schlimm.
Ich erzähle jetzt einfach von Finn. Der Rest wird sich erschließen. Falls nicht, bin ich einfach eine miese Erzählerin.
Es liegt nicht daran, dass ihr zu blöd seid, alles zu kapieren.
Haha, tut mir leid, wenn ich jetzt kurz lachen muss. Denn eigentlich denke ich insgeheim, dass ihr wirklich ausgesprochen blöd sein müsst, etwas nicht zu verstehen, was ich erläutere. Ich spreche es nur nicht aus, um euch nicht als Zuhörer zu verlieren. Komisch.
Es war mir so lange gleichgültig, ob mir jemand zuhört oder nicht.
Aber jetzt, wo ich weiß, dass ich bald mit niemandem mehr sprechen werde, brauche ich euch. Das ist nicht nur komisch, sondern absurd.
Ich liebe dieses Wort: absurd.
Und ich bildete mir für eine Weile ein, Finn zu lieben.
Damit habe ich jetzt wieder den Bogen zu dem Tag gespannt, an dem ich ihn zum ersten Mal traf:
Es war ein viel zu früher Sommermorgen und ich stand mit einem Haufen Gepäck am Straßenrand und schämte mich.
Es gab genug Gründe, sich zu schämen. Ich hätte sie dennoch nur schwer einzeln benennen können.
Aber meine Haut brannte unter der gleichgültigen Helligkeit der fahlen Morgensonne, und ich wusste nicht wohin mit meinem Blick und meinen Händen.
Ich dachte darüber nach, ob mein Schamgefühl bereits den Pegel erreicht hatte, an dem ich ein rotes Gesicht bekommen würde, was einen zusätzlichen Grund für Peinlichkeit dargestellt hätte. Und ich überlegte angestrengt, ob ich es schaffen würde mein Erbrochenes unauffällig wieder herunterzuschlucken, falls ich mich im Bus übergeben würde.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Aus den Augenwinkeln nahm ich den besorgten Blick wahr, mit dem meine Mutter mich beäugte, aber ich beschloss, ihn hart zu ignorieren.
Das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war eine Diskussion mit einem Elternteil, der seinen Erziehungspflichten in Form von guten Ratschlägen nachkommen wollte.
Der Elternteil sah das natürlich leider anders.
„Du kannst es dir immer noch überlegen, Lily!“, kam es in eindringlichem Ton. „Wir zwingen dich nicht, das weißt du!“
Doch, genau das tut ihr. Hätte ich antworten können. Ihr zwingt mich durch emotionale Erpressung und die Ausnutzung eurer Machtposition.
Aber damals war ich noch sehr jung, gerade erst 14 Jahre alt geworden, und noch nicht in der Lage all die Gedankenstürme zu verbalisieren, die mein Gehirn durchtosten.
Besonders nicht dann, wenn ich gerade damit abgelenkt war, dafür zu sorgen, nicht vollständig und sofort zusammenzubrechen.
„Und es sind ja auch nur 3 Wochen!“ Jetzt stupste sie mich auch noch aufmunternd in die Seite. Wahrscheinlich war das eher eine Demonstration für die Umstehenden, welch gutes Verhältnis wir hatten, denn sie wusste genau, wie sehr ich es hasste, angefasst zu werden.
„Schau doch nicht so düster!“
Nun gut, jetzt war es der Zeitpunkt, wenigstens pro forma ins Gespräch einzusteigen, sonst würden solche idiotischen Sätze gleich im Sekundentakt folgen.
„Ich schaue nicht düster, ich bin nur müde!“ Das war eine meiner Standard-Antworten auf den vorhergegangenen Vorwurf.
Wenn jemand eine Standardantwort benötigt, weil er so häufig auf seinen grimmigen Gesichtsausdruck angesprochen wird, dann liegt es nahe, dass er wirklich nicht besonders fröhlich wirkt.
Aber so sehe ich eben aus, wenn ich absolut neutral eingestellt bin.
Tatsächlich war ich an jenem Tag alles andere als neutral, das gebe ich sofort zu. Dennoch. Ich traute mich nicht zu sagen: „Mutter, halte deinen Mund!“
Ich war schließlich noch ein braves Mädchen.
Vielleicht eines, das trotzdem für Kummer sorgte. Aber zum Beispiel viel zu brav, um mich schlichtweg zu weigern, für drei Wochen mit einer Horde von unbekannten Jugendlichen bis ans Ende der Welt, also Norwegen, zu reisen, obwohl ich schwer davon ausging, dass dies meinen sicheren Tod bedeuten würde.
In dem Augenblick lief Finn an mir vorbei. Natürlich wusste ich da noch nicht, wer er war, aber ich behalte ihn genau so, wie ich ihn damals sah, für immer in Erinnerung. Es mag ein wenig ironisch anmuten, dass für immer in meinem Fall nur noch wenige Minuten bedeutet, aber das ist nun etwas, was ich natürlich damals noch nicht wusste.
Er warf mir im Vorbeigehen so ein leichtes Lächeln zu, das wahrscheinlich ungefähr signalisierte: Wir beide im selben Boot, unbekannterweise.
Ich reagierte nicht, weil ich auf derartige nonverbale Annäherungsversuche stets viel zu spät reagierte. Deshalb dachte er bestimmt