Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel. Hanna-Linn Hava

Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel - Hanna-Linn Hava


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      Ich bemühte mich, besonders engagiert aus dem Fenster zu winken, als wir abfuhren, und ganz kurz spürte ich Mitleid mit meiner Mutter. Wie sie etwas verloren dort stand und ihr hilfloses Gesicht immer kleiner wurde. In diesem Augenblick war ich sogar erleichtert, für drei Wochen dem häuslichen Umfeld aus Vorwürfen und Schuld, Streit und Sprachlosigkeit zu entkommen.

      Mochte diese unsägliche Reise zu guter Letzt etwa sogar einen positiven Aspekt offenbaren?

      Misstrauisch begann ich meine Mitreisenden zu scannen, soweit mein Röntgenblick sie zu erfassen vermochte.

      Ich saß alleine - zum Glück! - auf einem Doppelsitz so ziemlich genau in der Mitte und nicht weit weg vom WC. Wie bereits erwähnt war es nicht unrealistisch, dass meine Übelkeit während der Fahrt mich zum Kotzen zwingen würde.

      Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.

      Links neben mir hatte es sich ein Mädchen am Fenster bequem gemacht. Sie war in etwa mein Alter, das beinahe schwarze Haar in zwei Zöpfen geflochten, pragmatisch gekleidet in Kapuzenpulli und Jeans mit einem offenen, kindlichen Gesicht. Ich tippte auf den Typ sportliche Streberin, die es ungerechterweise schwer hatte, weil sie tatsächlich aus Freude daran viel lernte und nicht, um es anderen recht zu machen. Als sie ein Kindle aus ihrem Rucksack zog, um wahrscheinlich etwas so Ungewöhnliches zu tun, wie einen richtigen Roman zu lesen, wurde sie mir beinahe sympathisch. Solange es sich dabei weder um Mädchen mit Pferden oder Mädchen mit Vampiren handelte. Beides war gleichermaßen scheußlich.

      Jedenfalls ordnete ich sie als keine aktuelle Bedrohung ein und scannte weiter.

      In der letzten Reihe zum Beispiel ging es bereits um einiges lauter und beunruhigender zu. Es stellte offensichtlich ein Naturgesetz dar, dass sich in den letzten Reihen stets diejenigen sammelten und verbrüderten, die auf irgendeine Art und Weise Ärger machen würden.

      Und wenn ich es aus den Augenwinkeln richtig wahrgenommen hatte, war leider auch Finn dort irgendwo dabei.

      Direkt vor mir tuschelten zwei Mädchen mit zusammengesteckten Köpfen miteinander, so dass sie in mein Blickfeld gerieten.

      Blondiertes Haar blitzte auf, Parfümschwaden wehten herüber, und ich schnappte die Satzfragmente „er schreibt, er vermisst mich schon voll“ und „findest du nicht, dass diese Hose mich fett macht“ auf. Natürlich würde ich mich hüten, Menschen allzu schnell in Klischees zu schubsen, aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es einen Typ Mädchen gab, mit denen ich nicht gut zurechtkam.

      Halt, das war irreführend ausgedrückt. Grundsätzlich kam ich nicht gut zurecht mit Mädchen aller Art, Jungen aller Art und Erwachsenen aller Art, außer diese waren geistig völlig verrückt. Mit den Verrückten fand ich immer erstaunlich schnell eine gemeinsame Ebene.

      Aber es gab verschiedene Differenzierungen von „schlecht zurechtkommen“: Durchschnittlich, überdurchschnittlich und total.

      Und so selten ich auch in totalitären Maßstäben dachte – wenn solche wie die und solche wie ich aufeinandertrafen, griff normalerweise der Begriff „total schlecht zurechtkommen.“ Nur dass ich dabei meistens den Kürzeren zog. Weil auf meiner Seite gab es immer nur mich. Und auf der anderen herrschte grundsätzlich eine Überzahl. Manchmal fühlte es sich so an wie allein gegen die Welt. Klar klingt das erst mal nach jammervollem Selbstmitleid.

      Dabei betrachtete ich die Lage nur mit kühlem Kalkül. Es war eine nüchterne Rechnung:

      Wer in diesem Bus könnte einen möglichen Verbündeten darstellen, wer würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Feind beweisen und wer neutral bleiben?

      Es gab dreißig Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren in diesem Bus auf dem Weg in drei Wochen voller Spaß, Action und Kreativität. So versprach es wenigstens die wenig vertrauenserweckende Website der Kirchengemeinde.

      Aber nur einer davon war deutlich bewusst, dass sie sich mitten in einem Krieg befand. Aber sie wusste noch nicht, dass sie zwar die ein oder andere Schlacht gewinnen würde, aber von Anfang an dazu verdammt war, diesen Krieg zu verlieren.

       Drei

      Die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen ist zu Recht ein beliebtes Motiv in Film und Buch. Wahrscheinlich hat jeder von euch zumindest einmal darüber nachgedacht oder eine Situation erlebt, in der er sich sehnlichst wünschte, diese Superkraft zu besitzen, oder etwa nicht?

      Mit 14 hatte ich mir diese bereits erarbeitet. Es war so viel leichter gewesen, als ihr vermuten würdet. Weil es einen zwingenden Punkt gibt, der größtenteils unbekannt ist.

      Ihr wollt alle schöner aussehen, als ihr es tatsächlich seid. Keine empörten Widerworte bitte. Ich unterstelle niemandem maßlose Eitelkeit. Und falls doch, kann euch meine Meinung egal sein, macht euch doch nicht so abhängig vom Urteil anderer. Aber zu spät. Das wurde euch schon unumkehrbar indoktriniert.

      Ihr seht die Makellosigkeit eurer Vorbilder, ihr brütet über den tausendfach gefilterten Instagram Bildern, die euch mit überirdisch perfekten Körpern angreifen. Und dann kapituliert ihr, ohne überhaupt zu wissen, dass gerade die Deckung eures Selbstbewusstseins unter einer Attacke zusammengebrochen ist, und ihr bestellt euch brav die lippenvolumenvergrössernden Cremes, die wimpernverlängerndenundstärkenden Mascaras und die sauteuren Leggins aus viel zu billigem Material.

      Ihr schleicht gedemütigt ins Fitnessstudio, um aus Hühnerbrüsten etwas Männliches, oder ihr schnallt euch verschämt wattierte BHs um, um aus Hühnerbrüsten etwas Weibliches zu machen, und ihr übt den coolen Blick oder den sexy Schmollmund tausende von Malen im abgeschlossenen Bad.

      Wenn ihr euch jetzt ertappt fühlt, beruhige ich euch in einem Anflug von Mitgefühl: Keine Sorge, ihr tut das alles, weil ihr völlig normal seid. Euch bleibt nichts anderes übrig, und ihr greift auf eine Verhaltensweise zurück, die das Überleben der menschlichen Spezies bis jetzt entscheidend mitgesichert hat: Ihr passt euch den gegebenen Umständen und Schönheitsidealen an. Kompliment also.

      Ein Freak wie ich denkt anders. Und dass so jemand eben nicht langfristig überlebensfähig ist, habt ihr ja bereits mitgekriegt. Ihr seid ja nur noch mit dabei, weil ihr schon sensationslustig darauf giert, endlich meinen Tod mitzuerleben. Da braucht ihr noch ein bisschen Geduld. Ich bin gerade so schön am Erzählen.

      Und zwar davon, wie der Wunsch nach Schönheit das Unsichtbarwerden verhindert.

      Es ist ein ziemlich simples Gesetz: Wir sind aufgehübschte Leute gewohnt. Nicht nur das. Wir sind es gewohnt, aufgehübschte Leute an der Art ihrer Aufgehübschtheit einzuordnen. Und wir sind es gewohnt, dass aufgehübschte Leute auch gesehen werden wollen.

      Und dann existieren diejenigen, die so dermaßen nicht in dieses Normbild passen, dass sie auch schon wieder auffallen. Die extrem Fetten. Die extrem materiell Unbegünstigten. Die extremen Nerds. Nicht die coolen Nerds, sondern die, deren Kleidung von Mami ausgesucht wird, die beim Reden sabbern und im Sportunterricht mit ihren X-Beinen verzweifelt versuchen mitzuhalten. Die Opfer, um es kurz zu machen.

      Und genau in der Mitte zwischen den Aufgehübschten und den Opfern existiert ein winziger Punkt der absoluten Neutralität. Wer sich in diese Neutralität hüllt, der wird unsichtbar. Ein Quäntchen zu wenig bedeutet bereits, als Opfer wahrgenommen zu werden. Und ein Quäntchen zu viel schubst einen in den sichtbaren Normbereich.

      Ich hatte hart daran gearbeitet, diesen Punkt so genau wie möglich zu treffen, und nach einigen Monaten des Herumexperimentierens und der Rückschläge hatte ich ihn im Alter von zwölf Jahren ziemlich exakt erreicht.

      Natürlich gab es Tage, an denen ich schluderte und sichtbar wurde, und natürlich bewahrte ich es mir vor, in bestimmten Situationen nachlässig zu werden.

      Aber so insgesamt kümmerte ich mich jeden Morgen dann, wenn andere vor dem Spiegel standen und ihre Make-Up Maske auftrugen oder ihre Haare in einen Gel-Helm verwandelten, darum, sorgfältig die Rüstung meiner Unsichtbarkeit anzulegen.

      Auch am Tag meiner Abfahrt ins Straf-,


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