Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel. Hanna-Linn Hava

Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel - Hanna-Linn Hava


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befürchten.

      Wir schlossen uns dem wachsenden Haufen der immer noch von der Seereise gezeichneten Gestalten an. Sogar jetzt noch kann ich mich beinahe körperlich an das Prickeln erinnern, das ich empfand, als ich von Finn und mir als „wir“ dachte.

      „Finn und Lily, richtig?“, empfing uns ein braungelockter Jüngling, der so jung gar nicht mehr war. Ich erkannte erst jetzt, dass es einer von Brigittes Assistenten sein musste und keiner unserer Leidensgenossen.

      „Nee, falsch, Finn und Irgendwie halt“, konterte Finn grinsend. Ich kicherte. Bis dahin hatte ich nicht mal geahnt, dass ich kichern konnte.

      Der Jüngling fand es weniger witzig. Aber sein Lächeln blieb da, wo es war. Natürlich. Blaues Outdoor-Karohemd, Sandalen mit Socken und ein Gitarrenkoffer über der Schulter. Christ. Dafür, dass er höchstens 22 Jahre alt war, kleidete er sich wie mein Opa. Na gut, mein Opa war ein rüstiger 90-jähriger Hobby-Ornithologe der sockig und sandalt fröhlich in Wäldern herumlag und „Juchheißa!“, brüllte, wenn er eine schwarzschnäblige Birkenmeise erspähte, also schon wieder irgendwie bewundernswert.

      Aber mit Anfang 20 musste doch etwas Grundlegendes im Leben schiefgelaufen sein, wenn man sich freiwillig in einem derartigen Aufzug als Betreuer eines Jugendcamps zur Verfügung stellte.

      Später sollte ich erfahren, dass Lukas, wie er hieß, wirklich nichts weiter als ein guter Mensch war. Er studierte Sozialarbeit, war ein begeisterter Kanu-Fahrer, engagierte sich für Obdachlose und war der aufrichtigen Meinung, Jesus sei das beste Vorbild, das man sich wünschen könne.

      Nichts daran verdiente meine Kritik. Ich würde dennoch gemein zu ihm sein.

      Aber das wusste er noch nicht. Er hielt Finn für den Störenfried. Na ja, das war auch nicht falsch.

      Finns ganze Erscheinung trug den Titel „Störenfried“. Natürlich war das bewusst genau so von ihm gewählt, nicht anders, als ich mich absichtlich für „unsichtbar“ entschieden hatte. Aber wisst ihr was? Damals machte ich mich generell über alle Arten von selbstgewählten Rollen lustig. Ja, in finsteren Momenten mit schwarzem Humor gewiss auch über meine eigene.

      Nur Finn durfte ungestraft sein Rebellentum auf naive Weise präsentieren. Ich sah verklärt darüber hinweg. Und ihr habt inzwischen längst kapiert, dass „verklärt“ kein Titel ist, den irgendjemand mit mir normalerweise in Verbindung bringen würde.

      Obwohl, Lukas möglicherweise schon. Denn dieser erwischte mich ja ausgerechnet in diesem Zustand. Wahrscheinlich furchten deswegen Sorgenfurchen seine jugendliche Stirn, als er uns so zusammen sah; er befürchtete ein sich anbahnendes Techtelmechtel, das seine Aufsichtspflicht strapazieren würde. Denn auch Lukas war ein Veteran der Ferienlager-Bewegung, sowohl als aktiver als auch pensionierter Teilnehmer. Er hatte bereits alles gesehen. Er wusste, welch undenkbaren Dinge geschehen konnten. Und er war fest entschlossen, diese zu verhindern.

      All dies spiegelte sich in dem Timbre seiner Stimme wider, als er fragte: „Habt ihr etwa geraucht?“

      Meine spontane Antwort wäre gewesen: „Das ist eine durchaus korrekte und nicht unscharfsinnige Erfassung der Situation, Gratulation.“ Inzwischen wusste ich ja, dass dies zwar ebenfalls eine durchaus korrekte Äußerung wäre, aber aus einer Vielzahl von Gründen keine kluge. Denn was Menschen in so einem Fall normalerweise taten, war zu lügen. Das machte alle zufrieden, seltsamerweise auch die Belogenen. Lügen aber war in meiner Programmierung nicht vorgesehen. Inzwischen kann ich es übrigens ganz gut. Es ärgert mich zwar immer noch, wenn ich Unwahrheiten einsetzen muss, nur damit eine Konversation nicht ins Stocken gerät, aber ich kann es tun. Und nein, damit habe ich nicht meine Prinzipien verraten und bringe mich jetzt deswegen um. Das haben sich die Scharfsinnigen unter euch bestimmt gerade zusammengereimt. Hört auf mit so was. Damit geht ihr mir nur auf die Nerven. Aber okay, falls jemand es schafft, das Ende zu erraten, ohne bei diesem Buch bis ganz nach hinten zu blättern, bekommt er ein Schokoladeneis mit Sahne und bunten Zuckerstreuseln. Und das war jetzt eiskalt gelogen. So gut bin ich inzwischen darin.

      Damals war ich es nicht.

      Und weil ich dazu noch überrumpelt war von meiner neuen verblüffenden verklärten Beziehung zu Norwegen und zu Finn, tat ich etwas Dummes: Ich sprach meine spontane Antwort laut aus.

      „Das ist eine durchaus korrekte und nicht unscharfsinnige Erfassung der Situation, Gratulation.“

      Das Gesicht von Lukas veränderte sich so, als hätte ich ihn mitten hineingeschlagen. Finn neben mir lief knallrot an, als er versuchte, einen Lachanfall zu ersticken.

      Ich lief ebenfalls knallrot an. Warum nur gehörte es nicht zu einem normalen Konversationsverhalten, fehlerhafte Sätze einfach so löschen zu können? Wir hätten eine bessere Welt! Ich jedenfalls hätte eine bessere Welt.

      Aber in dieser Welt hatte ich unseren jungen, sympathischen Betreuer gleich mal ordentlich verbal verletzt. Weil er sich natürlich durch Ironie angegriffen fühlte. Obwohl ich es nicht mal ironisch gemeint hatte. Aber das brauchte ich gar nicht erst zu behaupten. Ich wusste, dass das alles nur noch schlimmer machen würde.

      Mit der Unsichtbarkeit war es jedenfalls ab jetzt absolut vorbei. Ich griff automatisch zu dem einzigen Mittel, das mir noch blieb und lächelte harmlos. Ein weiterer Blick in Lukas Gesicht zeigte mir, dass er auch das nun als ironische Geste auffasste.

      „Kommt jetzt“, sagte er schroff und so, als hätte er beinahe etwas anderes gesagt und ging zum Bus voran.

      Wir folgten.

      Finn ging so dicht neben mir, dass der feste Stoff seiner Jeansjacke an meinem Arm rieb wie die Zunge einer Kuh.

      „Sowas hätte ich dir nie im Leben zugetraut“, sein Atem war dicht an meinem Ohr, seine Worte eine Mischung aus Flüstern und Lachen. Ich konnte sein Shampoo riechen, vermischt mit Schweiß und Rauch und Haut.

      „Du siehst so süß und schüchtern aus!“

      Ich bin mir immer noch ganz sicher, dass dies das erste Mal war, dass ein Typ mich süß fand. Ich weiß auch noch genau, wie ich mich darüber wunderte. Nein, das ist viel zu milde ausgedrückt. Ich weiß noch genau, was das für ein Schock war. Kein negativer. Ungefähr so, wie wenn nach dem Saunagang der Schwall kaltes Wasser kommt. Nur überras chender.

      Deswegen stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße. Mein Gehirn streikte, als es versuchte, diese Information zu verarbeiten und eine angemessene Reaktion zu finden. Aber da kam nur ein „Error“ und löste fast einen Systemabsturz aus. Der Wechsel von „unsichtbar“ über „frech zu Betreuern“ zu „süß“ kam zu schnell und ohne Vorankündigung. Ich fühlte den Schwindel kommen und konnte ihn nicht aufhalten.

      Inzwischen kann ich auch das. Habt ihr inzwischen gemerkt, wie viel ich inzwischen kann? Im Vergleich zu früher jedenfalls. Ich kann mit Sicherheit vieles besser als ihr. Dinge, die ihr niemals lernen werdet. Aber das kann euch so was von egal sein. Denn das was ich nicht kann, darauf kommt es nun mal an. Und das sind Dinge, die ich niemals lernen werde. Und zwar nicht deswegen, weil mir keine Zeit mehr dazu bleibt. Ich könnte die nächsten hundert Jahre damit zubringen, fleißig zu lernen, zu trainieren, zu wiederholen, zu studieren, zu verinnerlichen – vergeblich. Jedem Menschen sind geistige Grenzen gesetzt. Eure verlaufen in einem harmonischen Kreis, der von einem gütigen Schöpfer gezogen wurde. Und zwar so, dass der all das beinhaltet, was ein menschlicher Geist benötigt, um ein intaktes soziales Wesen zu sein. Ihr schafft es zweifellos dennoch, euch seit Jahrtausenden wie asoziale Arschlöcher aufzuführen, aber das ist euer Problem.

      Bei meinen Grenzen hingegen war der Teufel Architekt; er dehnte sie stellenweise bis in Gefilde aus, die ihr nicht betreten könntet, ohne wahnsinnig zu werden. Und dann wiederum zog er sie in anderen Bereichen so eng, dass ihr mich mit meiner vollsten Zustimmung als geistig zurückgeblieben bezeichnen dürft.

      Und das mit dem Teufel ist nicht einmal so weit hergeholt.

      Vor kurzem noch, wenn man die Menschheitsgeschichte als Ganzes nimmt, hättet ihr mich als Hexe verbrannt.

      Jetzt kann ich eure Empörung beinahe greifbar spüren. Aber das ist eine selbstgerechte


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