Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel. Hanna-Linn Hava
moralischen und gesellschaftlichen Regeln an. Wenn die euch vorgeben, dass Hexen verbrennen ein nettes Hobby ist, dann macht ihr das. Wenn es ein Tabu ist, Jungen Röcke anzuziehen, dann macht ihr das nicht, obwohl es nichts gibt, was dagegenspräche.
Wenn es als normal gilt, eine ganze fühlende und denkende Spezies wie das unterschätzte Schwein nicht nur zu versklaven, sondern als billiges Material anzusehen und unter den qualvollsten Bedingungen massenweise zu vermehren, nur damit ihr euer tägliches Schnitzel für 1,99 im nächsten Discounter bekommt, dann hinterfragt ihr das nicht.
Wenn irgendwo anders auf der Welt andere Völker genau das gleiche mit Hunden machen, dann fangt ihr an zu heulen und haltet das für böse.
Aber wir wollen jetzt nicht anfangen, darüber zu diskutieren, was Menschen an Vorwänden einfällt, um anderen Spezies und sich selber Böses anzutun und sich dennoch als der Gute dabei zu fühlen. Wir wollen auch nicht darüber diskutieren, ob nicht alles, was ihr als böse bezeichnet, ganz normale menschliche Verhaltensweisen darstellt.
Sonst mache ich euch nur Angst, weil ich euer Weltbild durcheinanderbringe. Dann schützt ihr euch, indem ihr euch über mich ärgert. Und dann rennt ihr weg. Und ich muss doch alleine sterben.
Also erzähle ich euch weiter von Finn und dem Ferienlager. Vor allem die Mädchen unter euch wittern bestimmt schon seit einer Weile eine Geschichte über die erste große Liebe und große Emotionen und großes Drama. Das gefällt euch. Und an die männlichen Vertreter: Ja, irgendwann geht es auch um Sex. Fühlt ihr euch jetzt in typische Geschlechter Klischees gedrängt? Immerhin etwas.
Ich erzähle trotzdem weiter.
Als wir in den Bus stiegen, meldete sich ja der Schwindel bei mir an. Ihr erinnert euch. Der Schwindel ist ein alter Bekannter von mir. Als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen. Aber das heißt nicht viel, ich habe keine Freunde. Damals hielt ich ihn für meinen schlimmsten Feind.
Denn wenn er beschlossen hatte, mich zu überwältigen, dann tat er das einfach. Ich verfügte über kein Mittel, ihn aufzuhalten.
Und selbstverständlich tauchte er immer dann auf, wenn ich ihn so überhaupt nicht brauchen konnte. Die engen Stufen den Bus hinauf schaffte ich irgendwie, und irgendwie reichte es sogar bis zu meinem Platz, auf den ich mehr fiel als niedersank. Falls Finn irritiert von meinem Verhalten zu seiner Rückbank weiterzog, so bekam ich das nicht einmal mit.
Ich spürte nur die Erleichterung, zu sitzen. Mit zitternden Händen schaffte ich es, mir die Hörer in die Ohren zu stopfen und mein Hörbuch einzuschalten. Die beruhigende Erzählstimme streichelte sanft meinen Geist und drängte die Panik zurück.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Der Schwindel blieb. Wenn ich versuchte, ihn genau zu beschreiben, versagte ich.
Ein Arzt hatte mich bereits daraufhin untersucht und nichts Abnormales gefunden. Herz und Kreislauf, alles unauffällig. Er schob es auf schnelles Wachstum, was ein Witz war, wenn man meine 162 cm bedachte.
Mir machte der Schwindel mehr als nur ein bisschen Angst. Er war brutal. Er lähmte meinen Körper, so dass ich kaum noch Kontrolle darüber hatte. Als säße ich weit entfernt in einem Turm und blickte auf meine nutzlosen Gliedmaßen hinab. Auch mein Kopf war dann außer Kontrolle. Wie an der Schwelle zu einer Ohnmacht, nur dass diese nie kam. Geräusche taten mehr weh als sonst. Gesprochene Sätze machten keinen Sinn mehr. Ich war wie in rosa Zuckerwatte gehüllt, nur dass diese mir Schmerzen zufügte.
Versucht das mal einem Arzt zu erklären. Ich war damit bereits bei meinen Eltern gescheitert.
Als ich das mit der aggressiven rosa Zuckerwatte geschildert hatte, war mir mein Vater nur lachend mit der Hand durchs Haar gewuschelt.
„Du hast eine so unglaubliche Fantasie! Bestimmt wirst du einmal eine fantastische Schriftstellerin!“
Er hatte nicht mehr gelacht, als ich daraufhin erzürnt meine Zimmertür hinter mir zugeschmettert hatte. Das war mir strengstens verboten, seitdem er das Schloss zum dritten Mal hatte auswechseln müssen.
Im Bus gab es kein Zimmer als Rückzug. Es gab mich, meinen Platz und den Schwindel.
Mit geschlossenen Augen, den Sprecher im Ohr, der nur für mich die beruhigende Geschichte von Fritz Haarmann, dem Werwolf von Hannover erzählte, ohne dass ich auch nur ein Wort verstand. Aber es half mir beim Einschlafen.
Und Schlaf, das wusste ich, würde den Schwindel vertreiben.
Und wenn ich erwachte, würden wir unsere Unterkunft erreicht haben. Und dort würde der Alptraum weitergehen, der sich heute so schockierend schnell in etwas Anderes verwandelt hatte. In etwas Seltsames. In etwas beinahe Wunderbares.
Und ich würde ohne meine Rüstung der Unsichtbarkeit lernen müssen, mit neuen Waffen zu kämpfen.
Und ein Teil von mir würde in der Schlacht fallen, und ein anderer Teil von mir würde zu neuer Macht gelangen.
Aber hey, das ist mir erst heute bewusst. Damals war ich nichts weiter als verwirrt. Seht ihr es vor euch, wie der rote Bus langsam mit mir durch enge Straßen kurvt, vorbei an Wasser und Steinen? Wie der Tag träge erwacht, wie vereinzelte Sonnenstrahlen immer wieder durch lichte Wolken stechen und den roten Lack aufleuchten lassen als wäre er aus Feuer?
Vielleicht sitzt in diesem Moment der Teufel am Steuer, der auch meine Grenzen gebaut hat.
Fünf
Vielleicht ist es jetzt Zeit für eine kleine Abhandlung über Einsamkeit. Einsamkeit ist unsexy.
Also wäre es blöd von mir gewesen, euch dieses Thema gleich zu Beginn vor den unbedarften Kopf zu knallen.
Aber zu diesem Zeitpunkt folgt ihr mir bereits mit genügend Interesse, um euch auch mal was zumuten zu dürfen. Ich habe euch echt geschont bisher. Das fällt mir schwer, weil ich nie genau einschätzen kann, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen. Ich kapiere es schon irgendwann, aber meistens erst dann, wenn jemand heult. Deswegen habe ich eine effektive Strategie entwickelt: Ich sage gar nichts. Das bedeutet nicht, dass ich nicht reden würde. Ich kann eine stundenlange Unterhaltung mit euch führen, ohne auch nur einen Satz mit Informationsgehalt von mir zu geben. Dafür lasse ich euch munter drauf los plaudern. Ihr macht das gern. Und es fühlt sich für euch nicht so an, als würdet ihr dabei ausgehorcht und auf eure Schwächen und wunden Punkte getestet. Im Gegenteil. Ihr findet mich schnell außerordentlich sympathisch.
Zu Beginn übertrieb ich es dermaßen mit meiner grenzenlosen Empathie, dass alle Mädchen meine beste Freundin werden wollten und sich alle Männer in mich verliebten. Einfach, weil mein Interesse an ihnen so grenzenlos war. Was sagt euch das?
Das sagt euch bereits etwas über Einsamkeit, korrekt.
Ihr seid alle irgendwie einsam. Die Beziehungen, die ihr miteinander führt, sind alles Kompromisse. Niemals findet ihr jemanden, der wirklich bis in die tiefsten Tiefen eures Herzens blicken kann und euch wirklich aufrichtig versteht. Das Komische darin ist, dass ihr euch das zwar sehnlichst wünscht, es aber andererseits selbst bei eurem Gegenüber nie ernsthaft probiert.
Ihr wollt für das geliebt werden, was ihr wirklich seid und gleichzeitig schämt ihr euch für das, was ihr seid und versucht, es hinter tausend Masken zu verstecken. So wird das nie was.
Aber das ist mir egal. Ich habe mir dieses Spiel lange Zeit angesehen, anfangs irritiert, dann amüsiert und zuletzt konsterniert.
Trotz allem jedoch ist die Einsamkeit nur ein kleines Zimmer in eurem Zuhause, ein kleines Zimmer, das ihr gut verschlossen und größtenteils vergessen habt.
Solche wie ich wohnen in der verfickten Villa Einsamkeit.
Schon von Geburt an. Wenn das jetzt in irgendjemanden so was wie einen Hauch Mitleid erweckt: Schluck ihn runter.
Ich hab mich längst gemütlich in meiner Einsamkeit eingerichtet. Solange ich für mich bin, spüre ich sie auch nicht. Solange ich Menschen