Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel. Hanna-Linn Hava

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Wenn sie überhaupt einmal sprechen. Dafür sind sie durchweg zurückhaltend und freundlich, wahrscheinlich, weil ihnen das große Glück bewusst ist, Norweger zu sein.

      Als wir am frühesten Morgen von Bord der verfluchten Fähre stolperten, verliebte ich mich ohne zu zögern in das gesamte Land. Vielleicht war es die milde Luft mit dem wilden Duft nach Salz und Moos und Fels und Wald.

      Vielleicht war es die helle Stille über dem schläfrigen Hafen. Vielleicht war es auch die Vorahnung, dass dies die ersten und letzten Tage meines Lebens werden sollten, in denen ich so etwas wie glücklich war.

      Egal. Ich war ganz tief innen beeindruckt. Ihr kennt mich nicht, also könnt ihr nicht wissen, dass mich kaum etwas beeindruckt.

      Als man mich im Alter von vier Jahren in einem Zirkus auf den Rücken eines Elefanten hob, ärgerte ich mich nur darüber, dass ich dort sitzen musste, wo sich das Kind vor mir vor Aufregung in die Hose gepinkelt hatte. Und mir tat der Elefant leid, der ständig durchnässte Kinder im Kreis schleppen musste. Und ich hatte Angst, dass wir nicht rechtzeitig für den Beginn von „Dunkle Epochen der Geschichte“ zu Hause sein würden.

      Als wir zum Geburtstag meiner Großmutter mit dem Heißluftballon aufstiegen, war ich gerade an einer wirklich spannenden Stelle bei Alice im Wunderland angelangt und konnte nicht nachempfunden, was an einer öden Landschaft von oben spannend sein sollte. Also verbrachte ich die gesamte Fahrt über lesend auf dem Boden sitzend. Da war ich schon fünf.

      Als der Mädchenschwarm Moritz sich für das Mädchen seines Herzens in der Klasse entscheiden sollte, und dies zum Ausdruck brachte, in dem er ausgerechnet mir einen Kuss auf den Mund gab, haute ich ihm dermaßen eine rein, dass seine Nase blutete. Da war dann wenigstens er beeindruckt, aber nicht positiv. Aber er fand Trost bei Mia, die war nämlich wiederum echt beeindruckt von ihm.

      Als dann der Direktor mich danach öffentlich per Schulsprechanlage zu einem Einzelgespräch einbestellte, war das Einzige, was mich daran störte, die Tatsache, dass dies ausgerechnet nicht während meiner verhassten Mathe-Stunde geschah. Wir hatten dann übrigens auch ein interessantes Gespräch darüber, dass Gewalt keine Lösung darstellt.

      Das war natürlich seine Meinung. Ich erklärte ihm, wenn Aggression nicht ein adäquates Mittel für Auseinandersetzungen sei, wäre sie dem Menschen rein evolutionstechnisch schon längst abhandengekommen. Und dann musste ich leider noch hinzufügen, dass er wohl eine Fehlbesetzung auf seinem Posten sei, wenn ihm derartiges Grundwissen fehlte.

      Da war ich acht.

      Danach musste ich zum ersten Mal die Schule wechseln. Und ab da erkannte ich übrigens so langsam, dass es die Leute nicht mochten, wenn ich sagte, was ich dachte. Oder so handelte, wie mir gerade war. Aber ich verstand noch nicht, warum.

      Jetzt, wo ich es verstehe, tut mir so manches leid, was ich gesagt oder getan habe. Wirklich. Aber das ist ein anderes Thema.

      Jedenfalls sah ich Norwegen und war definitiv beeindruckt.

      Das war ein so ungewohntes Gefühl, dass ich ganz vergaß, unsichtbar zu sein. Ich vergaß meine Vergangenheit, ich vergaß meine Zukunft. Ich war nur noch, irgendwo dazwischen.

      Und genau in dem Moment, in dem ich nichts weiter darstellte als ein Einsiedlerkrebs ohne Muschel, stand auf einmal Finn neben mir. Und sprach mich an.

      Die Morgensonne ließ sein Haar leuchten, als stünde es in Flammen. Das lenkte mich so ab, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht verstand. Also strahlte ich ihn an. Weit darüber hinaus, was mein einstudiertes Lächeln sonst zu bieten hatte. Weil in meiner Überraschung das Glück mitschwang, gerade jetzt genau hier zu stehen und Norwegen entdeckt zu haben.

      Daran lag es wohl, dass er so aufrichtig zurücklächelte, dass auch das mich irgendwie beeindruckte, auf eine ganz andere Weise, als Norwegen es tat.

      „Ja, echt, oder? Der totale Horror. Zurück schwimme ich lieber, bevor die mich noch mal auf dieses Wrack kriegen!“

      Ok, ich hatte das Einstiegsthema verstanden. Die Überfahrt. Die er anscheinend genauso wenig genossen hatte wie ich.

      „Wir können die nächsten Wochen ja schon mal hier üben“, entgegnete ich und deutete auf die schimmernden Seen in der Ferne.

      Finn lachte. Ich war geschockt. Zum ersten Mal seit langem hatte ich nicht erst meine Gedanken gefiltert, bevor ich sie aussprach und mein Gegenüber war weder gekränkt, irritiert oder gelangweilt.

      „Ich bin so ein mieser Schwimmer, da reichen ein paar Wochen nicht“, sagte er, immer noch lachend. Währenddessen zog er eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche und hielt sie mir hin.

      „Willst du auch eine?“, fragte er.

      „Klar“, sagte ich. Und war wieder geschockt, anders kann ich das nicht formulieren. Diesmal über mich selbst.

      Selbstverständlich rauchte ich nicht. Es gab keinen einzigen vernünftigen Grund, das zu tun. Es war eine dieser irrationalen Handlungen, für die ich die Menschen verachtete. Geld dafür auszugeben, um sich selbst langsam umzubringen: kein einziges Tier wäre so dämlich. Ich hatte dem rauchenden Anteil meiner Verwandtschaft leidenschaftliche Vorträge zu dem Thema gehalten. Kein Onkel traute sich mehr, in meiner Anwesenheit zu rauchen.

      Und jetzt hielt ich eine Kippe im Mund und ließ sie mir von Finn anzünden.

      Der Rauch, der mir die Kehle hinabrann, war viel beißender, als ich es erwartet hatte. Meine Lungen beschwerten sich. Aber ich ignorierte sie. Wenn ich wollte, konnte ich schon seit jeher echt hart im Nehmen sein, was meinen Körper betraf. Und gerade wollte ich ganz unbedingt.

      Ich atmete aus, und verspielte Wolken tanzten zwischen unseren Gesichtern.

      „Danke“, sagte ich und lächelte schon wieder, ohne es zu planen. Ich mochte komischerweise den gummiartigen Geschmack des Filters in meinem Mund, und ganz ehrlich: Ich liebte den Anblick des Rauchs. Vielleicht weil er sich in Finns elbischem Haar verfing.

      Jedenfalls geschahen in diesem Augenblick zwei Dinge. Zum einen war ich ab da entschlossene Raucherin. Und zum anderen erleuchtete mich die Erkenntnis, warum es alles andere als dämlich war dies zu sein: Diese Entscheidung, sich gegen alle Überlebensinstinkte zu stellen und bewusst etwas zu tun, was uns tötet. Das war der ultimative freie Wille. Darin lag eine kraftvoll elegante Schönheit, die mich von da an fesseln und leiten würde.

      So philosophisch verklärt klar war mir das damals natürlich nicht. Ich war einfach nur ganz verblüffend heiter. Das Warum war mir so was von egal.

      „Wie heißt du eigentlich?“, fragte Finn. Ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern.

      „Irgendwie halt“, sagte ich spontan.

      Finn lachte wieder. „Interessanter Name. Ich bin Finn.“

      „Nein, du bist Legolas“, hätte ich fast gesagt, konnte es aber irgendwie hinunterschlucken.

      Er gab mir einen kleinen Klaps auf die Schulter. Ich haute ihm deswegen keine rein. Nicht nur, weil ich inzwischen wusste, dass Gewalt gesellschaftlich unerwünscht war, sondern weil es mir nichts ausmachte, dass er mich berührte.

      „Wir müssen los, die Alte macht Stress.“

      Ganz eindeutig meinte er damit Brigitte, die machte nämlich richtig Stress. Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte uns seit wahrscheinlich einer guten Weile bei sich zu versammeln, denn sie klang maximal genervt. Das würde die nächsten Wochen sehr häufig der Fall sein.

      „Leute, jetzt macht schon, wir haben noch zwei Stunden Fahrt vor uns!“ Weil anscheinend die Leute immer noch nicht schnell genug machten, griff sie doch tatsächlich nach einer quietschgelben Trillerpfeife und blies hinein, dass es schepperte.

      Es war wohl nicht ihre erste Jugendfreizeit.

      Finn zertrat seine Kippe auf dem Felsboden und ich tat es ihm nach, ohne mich über die Umweltverschmutzung zu kümmern. Ich musste entsetzlich krank sein. Die Umweltverschmutzung war ein anderes Thema, durch das ich mich zu den strengsten Vorträgen hinreißen ließ, vor denen die bereits


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