Die Gier des Staates. Peter Uhl

Die Gier des Staates - Peter Uhl


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den Betriebsprüfungsbericht vorgetragen hatte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern, sie waren aber so stichhaltig, dass die Oberfinanzdirektion Freiburg zustimmte. Das Finanzamt musste daraufhin die Änderungsbescheide aufheben und meine Eltern keine Steuern nachzahlen. Ich hatte mich auf ganzer Linie durchgesetzt.

      Es stellten sich mir nach dem für meine Eltern erfolgreichen Ausgang der Betriebsprüfung verschiedene Fragen: Wie konnte es sein, dass Finanzbeamte in so eklatanter Weise rechtswidrig handeln? Ich wusste es nicht, hatte aber eine Vermutung: Es könnte mit den Nachwehen des Dritten Reichs zu tun haben. Während meiner Schulzeit endete der Geschichtsunterricht 1914, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Zeit danach existierte nicht. In der Schule waren Fragen, die diese Zeit betrafen, unerwünscht. Unmittelbar nach dem Abitur wusste ich nicht, wie Bürokratie funktionierte. Was die wichtigsten Vertreter der Philosophie, Politologie und Soziologie über Macht und Machtmissbrauch erforscht haben, war mir – wie wohl den meisten Bürgern – unbekannt. Unterricht über die Grundzüge eines demokratisch organisierten Staatswesens stand während meiner Schulzeit nicht auf dem Lehrplan. Mit berühmten Philosophen, Politologen und Soziologen wie Hobbes, Hume, Locke, Max Weber oder Hannah Arendt habe ich mich erst viele Jahre später beschäftigt, als meine Frau ein zweites Studium, Politologie, begonnen hatte und wir über dieses Fachgebiet interessante Gespräche führten. Mein Wissen über die Zeit von 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war also minimal. Die Macht, die Beamte in der Nazizeit gegenüber der Bevölkerung hatten, hatte ich als Kind lediglich in meinem Elternhaus zu spüren bekommen: Über bestimmte Angelegenheiten wurde nur sehr leise gesprochen und aus dem Verhalten meiner Mutter wurde deutlich, dass sie Angst hatte. Als Schüler litt ich unter der Sprachlosigkeit meiner Lehrer, die sich für ihre Vergangenheit vielleicht schämten. Da sie nicht reden konnten, spürte ich, wie sich ein roter Faden der Verlogenheit durch den Unterricht zog. Hinter dieser Verlogenheit stand wohl die Absicht des Kultusministeriums, die Komplizenschaft des Staatsapparats bei den begangenen Verbrechen zu verschleiern.12

      Und nun hatte ich aufgrund der Betriebsprüfung zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Behörde, einem Finanzamt zu tun. In meiner jugendlichen Naivität konnte ich mir nicht vorstellen, dass Beamte nach dem Desaster des Dritten Reichs nichts hinzugelernt hatten.13 Viele Jahre später begriff ich jedoch: Warum sollten Beamte, die bereits in der vergangenen Diktatur in Amt und Würden standen, ihr Verhalten ändern? Sie hatten kaum etwas zu befürchten, wie der Fall Globke zeigt. Er war das prominenteste Beispiel für die Übernahme der Verwaltungseliten des Dritten Reichs in den Behördenapparat der frühen Bundesrepublik Deutschland während der Adenauer-Ära. Globke war an der Entstehung der Nürnberger Rassengesetze beteiligt und verfasste 1936 zusammen mit Stuckart auf das Widerwärtigste den ersten Kommentar zu diesen Gesetzen. Unter Adenauer war er Staatssekretär im Bundeskanzleramt.14 Der FDP-Politiker Thomas Dehler äußerte sich so: »Globke hat einem Geist gedient, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.«15

      Das Versagen des Verwaltungsapparats im Dritten Reich ist heute wissenschaftlich in großem Umfang erforscht. Das Buch von Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen – Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, ist im Jahr 2013, das Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, im Jahr 2005 erschienen. Mit dem 2016 veröffentlichten Abschlussbericht Die Akte Rosenburg ist die NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums aufgearbeitet worden.

      Da rechtswidriges Handeln in allen Gesellschaftssystemen vorkommt, sowohl in einer Diktatur als auch in einer Demokratie, egal ob sie marktradikal, sozialradikal oder als soziale Marktwirtschaft organisiert ist, werde ich bei meiner Untersuchung, warum Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sich nicht immer an Gesetz und Recht halten, zum Vergleich an einigen Stellen die Zeit der NS-Diktatur mit einbeziehen.

      In allen Behörden sorgen geduldete Verhaltensweisen, Techniken und Hilfen zur Förderung unethischen Verhaltens für rechtswidrige Entscheidungen. Auch in einer Demokratie wird bürokratische Macht missbraucht. Der verstorbene bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß war unter den Politikern ein besonders schwarzes Schaf. Die mit seiner Person verbundenen zahlreichen Affären, die insbesondere durch die willfährige Mitwirkung mehrerer leitender Beamter des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen erst möglich wurden, hat Schlötterer in seinem Buch Macht und Missbrauch – Franz Josef Strauß und seine Nachfolger – Aufzeichnungen eines Ministerialbeamten ausführlich beschrieben.

      Heute gibt es über die Zeit der Fünfziger- und Sechzigerjahre Informationen, die mir damals nicht zugänglich waren. Vor allem der ARD-Film Die Akte General16 setzt sich mit dieser Zeit auseinander. Die Mehrheit der Beamten, die im Dritten Reich zur Verwaltungselite gehörte, war mit dem Nazi-Virus infiziert. Dieser Personenkreis übernahm in der jungen Bundesrepublik die Schalthebel der Macht in Politik, Behörden und Gerichten und verhinderte die Aufklärung der Naziverbrechen.

      Von der von mir erwarteten Redlichkeit staatlichen Handelns war also weit und breit nichts zu sehen. Ich fragte mich, warum der Steuerberater meinen Eltern nicht helfen konnte, und fand heraus, dass er mit dem Betriebsprüfer verwandt war. Der Steuerberater hatte nicht die Interessen seiner Mandanten, also meiner Eltern wahrgenommen, sondern mit dem Betriebsprüfer zusammengespielt. Aber warum sollte er das tun?

      Am Anfang der jungen Bundesrepublik waren viele Gesetze noch nicht demokratisiert worden. Für bestimmte Rechtsgebiete fehlten sogar noch die entsprechenden Gesetze. Das Steuerberatungsgesetz, die Berufsordnung für Steuerberater, trat erst am 01.11.1961 in Kraft, mehr als 16 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine unabhängige Finanzgerichtsbarkeit gab es im nationalsozialistischen Staat nicht. Der sah darin nur eine unbequeme Hemmung der Verwaltungsbeamten, die sich zum Führen und Handeln berufen wähnten und nicht auf das Erkennen und Einhalten von rechtlichen Schranken eingestellt waren.17 Die Rechtsgrundlage für den gerichtlichen Rechtsschutz bei Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung wurde erst 1965 durch die Finanzgerichtsordnung geschaffen, also 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und somit nach Pensionierung der Finanzrichter mit Nazivergangenheit.

      Vor 1962 musste jemand, der als Steuerberater tätig werden wollte, keine besonderen Kenntnisse nachweisen. So wurden zum Beispiel Beamte, die aufgrund ihrer besonders kriminellen Verstrickung in die Nazi-Ideologie die Beamtenlaufbahn verlassen mussten, als Steuerberater zugelassen,18 auch wenn sie bisher mit Steuern wenig zu tun hatten. Noch während meiner Tätigkeit bei einem Finanzamt in den Jahren 1961–1966 haben sich ältere Steuerberater, die aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurden, ohne ausreichendem eigenen Wissen von Finanzbeamten beraten lassen, wie steuerliche Probleme zu lösen sind. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Steuerpflichtiger, der sich von einem Steuerberater beraten lässt, gut beraten wird, wenn sich der Steuerberater seinerseits von einem Finanzbeamten beraten lässt. Der Steuerberater meiner Mutter ließ sich von seinem Verwandten beraten, schloss sich dessen Meinung an und erklärte den Fall für aussichtslos. Leider gibt es auch heute noch Steuerberater, die sich von Finanzbeamten beraten lassen.

      Meine Hoffnung, dass nach dem Ausscheiden der Finanzbeamten mit Nazivergangenheit aus dem Staatsdienst durch Pensionierung oder Tod sich die Verhältnisse bessern würden, hat sich indes nicht erfüllt. Als die Nachwehen der Nazizeit längst vorbei waren, hatte ich gleichwohl immer wieder mit vergleichbarem Fehlverhalten von Finanzbeamten zu tun, über das ich im Verlauf dieses Buches berichte.

      Meine bis heute anhaltende tiefe Skepsis gegenüber allem hoheitlichen Verwaltungshandeln – das zwangsläufig mit Macht verbunden ist, die missbraucht werden kann und auch wird – hat ihren Ursprung in der eingangs geschilderten Geschichte und einem weiteren Ereignis, das sich in der Schule abspielte: Ich war damals vierzehn Jahre alt und musste wegen eines Umzugs die Schule wechseln. Ich kam eine Woche nach Beginn des Schuljahrs in die neue Klasse. Während des Mathematikunterrichts wollte der Lehrer wissen, wie eine Aufgabe zu lösen sei. Es meldeten sich der neben mir sitzende Schüler, drei weitere und ich. Zuerst kam mein Banknachbar dran. Sein Lösungsvorschlag war falsch. Danach entwickelten die drei anderen ihre Lösungen, die ebenfalls nicht richtig waren. Während ich mich mit erhobenem Zeigefinger weiter meldete, fragte mich mein Nachbar nach meinem Lösungsvorschlag, den ich ihm erklärte. Sogleich meldete er sich zum zweiten Mal. Der Lehrer, der das alles beobachtete, schimpfte,


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