Der erste Tag im Ruhestand. Udo Lange

Der erste Tag im Ruhestand - Udo Lange


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zusammengestellte Sträuße. Einen davon erwarb er und ging zurück zu der alten Verkäuferin. Sie bediente gerade ein junges Pärchen. Als dieses gegangen war, überreichte er ihr den soeben gekauften Strauß. Erst kniff sie die Augen zusammen und musterte Paul von oben bis unten, nach dem Motto „Was soll das?“ Er ermutigte sie, sein Geschenk anzunehmen. Sie zögerte noch, aber dann sah er, wie ihr eine Träne die Wange runterlief. Er lächelte sie an und verabschiedete sich. Ihm kam der Gedanke: Wann hatte diese Frau zuletzt von jemandem einen Blumenstrauß bekommen? Vielleicht war das schon viele Jahre her.

       So einen schönen Tag, mit derart viel Freude und vielen Erlebnissen, hatte er lange nicht mehr gehabt. Sein Tag war gelaufen und er hatte auch das Gefühl, einen Menschen glücklich gemacht zu haben.

      3 - Im Tierheim

       Toni, ein aufgeweckter Teenager im Alter von Anfang 15, wohnt mit seiner jüngeren Schwester Alina und seinen Eltern in einer Etagenwohnung, in der keine Haustiere, wie Hund, Katze, Maus, gehalten werden dürfen. Zu gerne würde er einen Hund haben, so einen richtigen vierbeinigen Freund. Leider ging das nicht.

       Eines Tages kam er ganz traurig von der Schule nach Hause und seine Mutter fragte ihn, was vorgefallen sei und warum er mit hängendem Kopf ankomme. Toni sagte ihr, dass er so gerne einen Hund hätte, er aber wisse, dass das nicht ginge. Alina, seine Mutter und er saßen schweigend am Tisch und aßen zu Mittag. Irgendwie war die Stimmung durch Tonis Traurigkeit völlig unten. Nach dem Essen gingen die Geschwister in ihre Zimmer, um die Schularbeiten zu machen. Nach einer ganzen Weile klopfte es an Tonis Tür und seine Mutter stand lächelnd in der Tür und meinte:

       „Mir ist soeben noch etwas eingefallen. Wir haben doch hier in unserem Stadtteil ein Tierheim. Wie wäre es, wenn du dich dort melden würdest und fragst, ob du nicht eine Patenschaft übernehmen könntest. Die wären sicher froh, wenn sich jemand zur stundenweisen Betreuung der Tiere anbieten würde. Vielleicht kannst du auch Hunde Gassi führen. Was würdest du von dieser Idee halten?“

       Tonis Gesichtsausdruck hellte sich auf und seine Mutter merkte, dass er überlegte. Er war nicht der Typ Mensch, der vor Spontanität nur so sprühte. Nach einer Weile meine er nur:

       „Mama, deine Idee lasse ich mir mal durch den Kopf gehen. Sie ist eine Überlegung wert. Bestimmt wird das Tierheim aber genügend Leute haben, die sowas machen.“

       „Das ist gut, denke in Ruhe mal darüber nach, dann hättest du wenigstens etwas mit Tieren zu tun.“

       Der Gedanke ließ Toni nicht mehr los. Am nächsten Tag rief er im Tierheim an und brachte sein Anliegen vor. Die Leiterin, Frau Kamulke, war von Tonis Ansinnen erfreut und bat ihn, am nächsten Tag um 15 Uhr bei ihr zu sein, um alles Weitere zu besprechen. Gesagt, getan. Am nächsten Tag ging er frohen Mutes ins Tierheim, wo ihn Frau Kamulke freundlich empfing. Bei einer Tasse Kaffee besprachen sie alles. Toni erzählte ihr, dass er so gerne einen Hund hätte, was aber nicht ginge, da der Hauseigentümer allen Mietern dies schriftlich verboten hatte und er so traurig darüber sei. Das sei der Grund, warum er nun hier sei. Sie lächelte ihn an und meinte: „Ich zeige dir mal alle Tiere, dann kannst du sehen, wer alles bei uns ist.“

       Beide gingen langsam an den Zwingern vorbei und die Tiere waren ganz aufgeregt ob dieses unerwarteten Besuchs. Dann blieb Toni an einem Zwinger stehen. Dort befand sich ein mittelgroßer Mischlingshund, der Rocco gerufen wurde. Das Tier war völlig verschüchtert und zitterte am ganzen Leib, das kleine Schwänzchen war zwischen die Hinterläufe geklemmt. Aus seinen Augen trat die pure Angst hervor. Frau Kamulke sagte zu Toni, dass das ihr Sorgentier sei und er sich auch nicht anfassen ließe. Am liebsten hätte er den kleinen Kerl in seine Arme genommen und mit ihm ausgiebig geschmust. Toni fragte die Leiterin, ob er sich ab morgen intensiv um ihn kümmern dürfe. Sie fand die Idee großartig und meinte, dass er jeden Tag willkommen sei. Er war beglückt von dieser Aussage, denn dass es so schnell gehen sollte - damit hatte er nicht gerechnet. Sein Glück kaum fassend, ging er nach Hause und berichtete seiner Mutter und Alina von dem für ihn so positiv ausgegangenen Besuch im Tierheim. Seine Mutter nahm ihn in den Arm und sagte:

       „Das hast du richtig toll gemacht.“

      Am nächsten Tag meldete er sich bei Frau Kamulke an, die ihn, vor Freude strahlend, zu Rocco führte. Toni fand ihn genauso verschüchtert vor wie gestern. Er tat ihm in der Seele leid. Wie alt Rocco sei, wollte Toni noch wissen. Sie konnte ihm auch nur eine ungefähre Antwort geben. Er sei etwa zwölf bis fünfzehn Jahre alt und dass ihn der oder die Vorbesitzer sehr schlecht behandelt haben müsse. Es sei ein Jammer, das Tier in so einem Zustand sehen zu müssen und sie täten alles, um diesen zu verbessern. Toni sagte ihr, dass er sich jetzt zu ihm setzen wolle. Er öffnete ganz vorsichtig die Zwingertür, ging hinein, verriegelte sie von innen, setzte sich neben der Tür auf den Boden und begann ganz leise mit Rocco zu sprechen. Der rührte sich nicht vom Fleck und schaute ihn nur mit seinen tieftraurigen Augen völlig verschüchtert an. So ging das Tag für Tag. Toni wollte nach fast zwei Wochen aufgeben. Dann kam der erste Versuch der Kontaktaufnahme. Rocco kam ganz zögerlich auf Toni zu. Genauso vorsichtig streckte Toni ihm seine Hand, in der er ein Leckerchen hielt, entgegen. Alles wurde ausgiebig beschnuppert und nach einer ganzen Weile nahm sich Rocco dieses Stückchen und fraß es auf. Toni konnte sein Glück kaum fassen, dass seine Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt waren. Frau Kamulke konnte es auch kaum glauben, als er ihr davon erzählte. Sie lobte ihn unentwegt für seine Beharrlichkeit und Liebe, die er Rocco bisher geschenkt hatte.

       Es kam schließlich so, dass Rocco ihm vertraute. Die beiden wurden ein Herz und eine Seele. Der große Tag war gekommen, an dem beide auch endlich außerhalb des Tierheims Gassi gehen konnten. Das Schönste aber war, wenn sie von einem ausgiebigen Spaziergang nach Hause kamen und miteinander schmusen konnten. So ging es fast ein Jahr.

      Doch eines Tages lag Rocco völlig apathisch in seinem Zwinger und reagierte kaum auf Toni. Dieser setzte sich neben Rocco, nahm ihn ganz vorsichtig in seinen Schoß und streichelte ihn ganz zärtlich und fragte immer wieder: „Was hast Du?“ Toni konnte sich den Zustand, in dem sich Rocco befand, genauso wenig erklären, wie der herbeigerufene Tierarzt. Dieser vermutete, es könne Altersschwäche sein. Toni schüttelte mit dem Kopf, war doch Rocco noch gestern putzmunter auf dem Hundeplatz umhergesprungen. Toni wollte nicht nach Hause und blieb die ganze Nacht hindurch bei ihm, jedoch nicht ohne seiner Mutter vorher Bescheid gegeben zu haben. Gegen Morgen, es begann zu dämmern, bemerkte er, dass Rocco kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Er war in seinen Armen gestorben. Toni war voller Trauer um seinen kleinen Freund. Er weinte bitterlich und ging völlig gebrochen nach Hause, wo man sich schon Sorgen um ihn gemacht hatte. Seine Mutter blickte in seine vom Weinen geröteten Augen und nahm ihn, ohne auch nur ein Wort zu sagen, in ihre Arme. Toni weinte und konnte kaum beruhigt werden. Beide setzten sich auf die Wohnzimmercouch. Dann sagte seine Mutter:

       „Weißt du eigentlich, was du vollbracht hast? Du hast Rocco die schönste Zeit seines Lebens geschenkt. Er durfte ganz friedlich in deinen Armen eingeschlafen. Das war das letzte Geschenk, was er dir geben konnte.“

       Als Toni am anderen Tag ins Tierheim kam, empfing ihn Frau Kamulke zunächst schweigend und nahm ihn in ihre Arme. Sie tröstete ihn mit den Worten:

       „Du hast Rocco mehr Liebe in den zurückliegenden Monaten geschenkt, als er je in seinem vergangenen Leben erhalten hatte. Ich habe aber noch etwas für dich, hier in diesem Umschlag.“

       Toni öffnete das Couvert und hielt ein Bild in den Händen, das ihn und Rocco zeigte, wie sie sinnesversunken schmusten. Er konnte seine Tränen nicht mehr halten und weinte. Immer wieder küsste er das Bild und sagte kaum hörbar:

       „Danke, dass du mein treuer Freund warst. Ich werde dich nie vergessen.“

       Zwanzig Jahre sind vergangen. Das Bild aber hat einen Ehrenplatz auf dem Sideboard seines Wohnzimmers. Rocco wird auch immer einen Platz in seinem Herzen behalten. Zu innig war die kurze Zeit, die sie sich beide gehabt hatten.

      4


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