Der erste Tag im Ruhestand. Udo Lange

Der erste Tag im Ruhestand - Udo Lange


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Auch noch ein Junge als erstes Kind, toll. Nee, also den Mann habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ja wie jetzt, ohne Mann? Die Arme. Ist denn das Kind überhaupt von ihm, weil er ja schon so lange nicht mehr gesehen wurde. Nee, die Irene habe ich mit einem völlig unbekannten Mann gesehen. Es wäre ja bestimmt interessant, zu erfahren, von wem denn das Kind sei. Möglicherweise auch noch nicht einmal von dem Herrn, mit dem Irene zuletzt gesehen wurde –

       Es war eine völlig abstruse Diskussion und es wurde spekuliert, was das Zeug hielt. Das ging am Ende so weit, dass jemand einwarf, sie könne vielleicht auch in einem Bordell arbeiten, da sie fast jeden Tag morgens zwischen sechs und sieben Uhr aufgedonnert nach Hause käme.

       Plötzlich Totenstille. Die vermeintliche Irene betrat lächelnd das Wartezimmer. Alle schauten irgendwie weg oder in eine Zeitschrift, um nur ja nicht vom Blick der eintretenden Frau erfasst zu werden.

       „So, dann habe ich ja alle zusammen, die bereits mehr über mich wissen als ich selber. Es war spannend zu hören, welchen Unsinn und welch üble Dinge erzählt werden. Dann darf ich sie alle mal aufklären.“

       Die vermeintliche Irene öffnete die Wartezimmertür und noch eine Irene betrat den Raum. Beide Damen konnten voneinander kaum unterschieden werden, hatten doch beide dieselbe Kleidung an. Nur das Bäuchlein der einen war etwas rundlicher.

      „Die Dame neben mir ist meine Zwillingsschwester Irene, ich bin nämlich die Sabine. Meine Schwester war sehr lange krank. Deshalb habe ich mich um den Kleinen und den Haushalt gekümmert. Irenes Mann Helmut arbeitet bei einer Ölfördergesellschaft in Alaska. Die beiden treffen sich immer in Toronto, daher sehen sie mich auch hier. Den Herrn, den sie an meiner Seite gesehen haben, ist mein Mann Werner. Nun noch zu meinem angeblich aufgedonnerten Aussehen. Ich hasse es - selbst wenn ich nur Kleinigkeiten im Supermarkt einkaufen gehe - ungepflegt aus dem Haus zu gehen. Das gilt auch, wenn ich mit meinem Hund Gassi gehe.“

       Totenstille im Raum. Die meisten fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut, hatten sie sich doch an dieser unwürdigen Diskussion beteiligt.

       „Und noch eines. Bevor Sie sich wieder Ihre Mäuler über andere Menschen zerreißen, denken Sie immer vorher nach, wie verletzend Ihre Worte sein können. Denn Beurteilungen und Verurteilungen können oft mehr Schmerzen verursachen als jede Operation im Krankenhaus.“

       Atemlose Stille. Selbst der Patient drei Stühle weiter röchelte nicht mehr, wo vorher noch alle geglaubt hatten, er überlebe die nächsten 5 Minuten nicht mehr.

       Dann eine Stimme von hinten:

       „Das Ehepaar Schroeder mit o und e bitte, Ihre unterschriebenen Rezepte.“

       Beide waren froh, jetzt gehen zu können. Mittlerweile war es auch schon kurz nach neun Uhr. Brunhilde bemerkte nur, als beide im Auto saßen:

       „Wie gut, dass wir uns an dem Geschwätz nicht beteiligt haben. Die Arme.“

       Hans-Willi startete das Auto und fuhr nachdenklich los Richtung Meer. Es sollte ein wunderbarer Tag werden, den beide, auch wegen der Ereignisse in der Arztpraxis, nicht so schnell vergessen würden.

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