Fixin. Rayton Martin Villa
ungeheure Kraft des Windes zeigte sich besonders, als fünfhundert Meter flussaufwärts vom Aurora Plaza drei Güterzüge mit mehreren Wagons, die auf der Brücke vor der Cannon-Street-Bahnstation standen, von einer Bö wie Spielzeug in den zu Meer gewordenen Fluss geschleudert wurden. Julie hatte die Szene mit ihrer Kamera erfasst.
Als kurz darauf auch noch die Fahrbahn der Tower-Bridge von einem vom Orkan dahergetriebenen großen Lastkahn mit hoher Geschwindigkeit gerammt wurde, ergriff sie Panik. Das Schiff hatte mit seiner Spitze das nördliche Brückenportal getroffen und zum Einsturz gebracht. Der restliche Rumpf wurde darüber hinweggespült und von den riesigen Wellen immer wieder gegen das Hauptgebäude des Towers of London geschleudert. Julie musste mit ansehen, wie auch er mit jedem Schlag mehr und mehr niedergerissen wurde.
Obwohl sie durch ihren Beruf schon viele schlimme Dinge erlebt hatte, erholte sie sich zunächst kaum von dem gerade Gesehenen, denn sie malte sich soeben aus, was passieren würde, wenn das Meer noch weiter steigen und ein großes Schiff die Fundamente und tragende Struktur des Aurora Plaza wie mit einer Abrisskeule zertrümmern würde.
Ihr wurde schwindelig bei dieser Vorstellung und sie musste sich mit beiden Händen am Boden abstützen. Jetzt spürte sie die Erschütterungen und Schläge noch stärker, während sie noch die nächste Szene ihrer Reportage verfolgte, die dokumentierte, wie The Shard immer stärker beschädigt wurde. Das Gebäude in direkter Nachbarschaft war über dreißig Jahre alt und noch nicht für derartige Windgeschwindigkeiten konstruiert worden. Seine Glasfassade wurde vom Orkan immer mehr eingedrückt und von durch die Luft fliegenden Trümmerteilen eingeschlagen. Auch die Glasbruchstücke flogen jedesmal wie bei einer Explosion davon.
Julies Panikattacke war diesmal von einer völlig anderen Intensität. Mit zitternden Fingern schaltete sie die Wiedergabe aus. Sie hielt es nicht mehr aus, alles noch einmal anzuschauen, denn im Laufe des Tages waren ihr die Folgen für ihre eigene Existenz und Zukunft immer deutlicher bewusst geworden.
Todesangst stieg plötzlich in ihr auf.
Diese Katastrophe war mit kurzfristiger Ankündigung gekommen. Seit zwei Tagen wurde die Bevölkerung aufgerufen, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Die meisten, die unterhalb der Zehn-Meter-Hochwasser-Marke wohnten, hatten dies befolgt. Sie waren zu Freunden und Verwandten geflohen, die weit im Hinterland und mindestens oberhalb der Fünfzehn-Meter-Marke wohnten. Dass die Flut sogar über diesen Wert steigen würde, hatte der Wetterdienst nicht vorhergesagt. Schon jetzt waren hunderttausende Opfer zu beklagen, weil sehr viele Menschen im Schlaf vom Hochwasser überrascht wurden und auch jetzt kämpften mit Sicherheit noch sehr viele Menschen ums Überleben.
Der materielle Schaden war gar nicht abzuschätzen und die Frage, wie die Zukunft für die britischen Inseln aussehen würden, konnte zum heutigen Zeitpunkt niemand beantworten. Klar war nur, dass die Stadt so schnell wie möglich an einem sicheren Ort wieder aufgebaut werden musste, denn das immer schnellere Abschmelzen der Eismassen in der Antarktis und in Grönland würde den Meeresspiegel noch für Jahrzehnte entsprechend steigen lassen. Am Ende würde er fast einhundert Meter höher liegen als heute. Es stellte sich damit die Frage, wie Großbritannien und Irland oder genauer gesagt seine Bevölkerung überhaupt überleben konnte.
Hier auf den Inseln wohl kaum.
Julie war mittlerweile völlig erschöpft vom heutigen Geschehen. Sie nahm ihre beiden Taschenlampen und die Kamera und machte sich auf den Weg über die Nottreppe hinunter zum fünfzigsten Stock, wo sie ihren Schlafsack und den Großteil des Proviants hatte. Dort würde sie vielleicht etwas Schlaf finden. Hier oben an der Spitze war daran nicht zu denken, denn diese schwankte viel zu stark.
Im Lichtkegel ihrer Stirnlampe stieg sie das Treppenhaus hinunter. Ihr war unheimlich, denn auch die Notbeleuchtung war ausgefallen. Aus den angrenzenden Aufzugs- und Lüftungsschächten drang das tiefe Brüllen und Fauchen des Orkans. Luft und Wände vibrierten ohne Unterbrechung und andauernd wurde sie von Böen getroffen, abwechselnd von oben und unten, was das Gehen sehr schwierig machte. Um nicht zu stürzen, hielt sie sich am Geländer fest und nahm jede Stufe voll konzentriert.
So kämpfte sie sich über mehrere Minuten nach unten.
Im fünfzigsten Stockwerk verließ sie das Treppenhaus über die Nottür. Der kurze Gang dahinter war der ruhigste Teil, den sie hatte finden können. In den Büroräumen einen Gang weiter vorne tobte schon wieder der Orkan. Julie ließ sich auf ihren Schlafsack fallen und lehnte sich gegen die Wand. Sie schloss kurz die Augen. Das Gebäude schwankte auch hier noch, aber es war erträglicher als oben.
Sie steckte sich die Earphones in die Ohren, um den Lärm etwas zu dämpfen.
Ununterbrochen verliefen starke Erschütterungen durch die Wand hinter ihr, die von den riesigen Trümmern herrühren mussten, die ins Gebäude einschlugen. Die Vorstellung war zermürbend. Um wenigstens den Schlägen im Rücken zu entgehen, legte sich Julie auf ihren Schlafsack und schob die Hände unter den Kopf.
Erst jetzt fiel ihr auf, wie warm es im Tagesverlauf geworden war. Die Luft hier im Gang war feuchtwarm und roch modrig. In diesem Fall hatte die Vorhersage Recht gehabt. Der Sturm hatte tatsächlich diese ungewöhnlich warme Luft aus Sibirien herangeführt.
Eine ähnliche Situation war bereits vor etwa fünfzehn Jahren zum ersten mal aufgetreten.
Zuvor hatten dort die für Sibirien noch einigermaßen typischen Temperaturen geherrscht. Sie lagen zu dieser Jahreszeit meistens bei minus zwanzig Grad Celsius. Doch die Wetterverhältnisse veränderten sich weltweit immer mehr. Dass es im Sommer grundsätzlich wärmer war als im Winter galt nirgends mehr. Auch in Sibirien kamen plus zwanzig Grad im Winter und minus fünfundzwanzig im Sommer immer häufiger vor. Letztes Jahr waren sogar an einigen Tagen minus dreißig Grad in der Karibik gemessen worden.
Noch in ihrer Jugend war dies ganz anders gewesen. Es gab für jede Jahreszeit typisches Wetter und verlässliche Temperaturbereiche. Doch die alten Strömungsmuster der Atmosphäre waren inzwischen total aus dem Gleichgewicht geraten. Heiße Luft aus äquatornahen Regionen konnte auch im Winter bis in die Polargebiete gelangen. Umgekehrt floß dann eiskalte Polarluft oft bis zum Äquator.
In den Meeren war es ähnlich. Auch dort waren die Strömungen verschwunden, die über Jahrmillionen stabil gewesen waren und ein verlässliches Klima garantiert hatten.
Mit ihren einunddreißig Jahren war sie daran gewöhnt, dass das Wetter den Menschen weltweit die Ernten und damit die Existenzen zerstörte. Die Folge waren jedes Jahr Millionen Tote durch Hungersnöte und Überschwemmungen. Wer irgendwie konnte, war schon aus den am schlimmsten betroffenen Regionen geflohen. Das hatte auch in den Zufluchtsgebieten schon enorme Auswirkungen, da diese nicht die Möglichkeiten hatten, alle Flüchtlinge zu versorgen. Und die Lage verschlechterte sich natürlich immer noch rapide.
Vor allem aus den dicht besiedelten Küstenregionen flüchteten Jahr für Jahr überall Millionen ins Landesinnere. Es war abzusehen, dass die Welt in den kommenden Jahren vollkommen im Chaos versinken würde. Ein menschenwürdiges Dasein war jetzt schon in den meisten Regionen kaum mehr möglich.
Julie musste an die Gespräche und Warnungen ihrer Eltern denken, die sich schon große Sorgen um ihre Zukunft gemacht hatten, als sie noch ein Kind war. Sie hatten die Verhältnisse, die jetzt fast überall auf der Erde Wirklichkeit geworden waren, schon damals prophezeit. Die Gefahren durch die Verbrennung von Erdöl, Kohle und Erdgas war zu dieser Zeit von vielen offenbar immer noch vollkommen falsch eingeschätzt worden. Insbesondere die Erwärmung der Ozeane hatte die Bevölkerung als nicht so wichtig angesehen. Der Fokus war immer auf die Atmosphäre gelegt worden. Dass sich auch die Meere immer mehr erwärmten, wurde so lange Zeit einfach übersehen. Auf die Nature-Scientists, die vor genau der jetzt eingetretenen Situation immer gewarnt hatten, hatte kaum jemand gehört. Sie wussten, dass Meeresströmungen Wärme aus der Luft aufnahmen, sodass sich diese selbst kaum erwärmte. Das so erwärmte Wasser verteilte sich bis in große Tiefen, weswegen zunächst unbemerkt blieb, dass sich durch diesen Effekt riesige Energiemengen in den Ozeanen ansammelten.
Viele zogen aus den niedrigen Lufttemperaturen, die durch diesen Effekt verursacht wurden, den falschen Schluss, dass es keinen Treibhauseffekt durch Kohlendioxid und damit auch keine gefährliche