Rot ist die Rache. Stefan Huhn

Rot ist die Rache - Stefan Huhn


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trüben Himmel über Berlin.

      Wie in einem postapokalyptischen Zombiestreifen, dachte Timo und lächelte bei dieser schrägen Assoziation unwillkürlich über sich selbst.

      Die junge Studentin mit dem schmalen Gesicht und dem langen Pferdeschwanz betrachtete die beiden Polizisten argwöhnisch, als diese die Wohnung und insbesondere Tobias‘ Zimmer unter die Lupe nahmen. Außer ihrem leicht überprüfbaren Alibi für die Tatnacht – ein Konzertbesuch der Independentband Turnover im Berliner Club Musik & Frieden – konnte Lisa keinen verwertbaren Beitrag zur Aufklärung des Mordes an ihrem Mitbewohner leisten. Auch sie beschrieb, für die Kommissare anstrengend widerwillig, Tobias als unauffällig, vielleicht ein bisschen frustriert, aber keineswegs als einen potenziellen Kandidaten für das Opfer eines Racheaktes – oder was auch immer die postmortalen Spielchen mit dem Skalpell zu bedeuten hätten. Im Gegensatz zu dem, was die Berliner Polizei der Presse mitgeteilt hatte, hatten die Kommissare Lisa dieses pikante Detail in der vergeblichen Hoffnung verraten, sie könne damit etwas anfangen. Wie Tobias war sie Studentin der Soziologie, allerdings einige Semester darunter und ergo auch ein bisschen jünger.

      „Was glauben Sie denn hier zu finden? Tobias’ Zimmer ist doch seine Privatsache, oder nicht?“, fragte Lisa mit bissigem Unterton.

      „Na, das überlassen Sie mal schön uns, junge Dame“, erwiderte Timo, der sich aufgrund der Tonalität der Fragestellerin nicht die Mühe machen wollte, sich umzudrehen, während er mit dem Rücken zu ihr stehend die Schubladen des Opfers durchwühlte. Angesichts der überall in der Wohnung an die Wände gepinnten Flyer mit aussagekräftigen Statements wie Kein Mensch ist illegal und Polizeistaat – Nein danke! hatte der Hauptkommissar schon kurz nach Betreten der Studentenbude damit gerechnet, auf Gegenwehr zu stoßen. Erst wollte er sich zurückhalten. Jetzt, wo Timo mit seinem Kollegen in der kleinen Behausung eines ermordeten jungen Mannes stand, brauchte es nicht viel mehr und er hätte der Weltverbesserin den Marsch geblasen.

      Als Lisa dem Kommissar fast den Gefallen getan hätte, ihm eine weitere Steilvorlage zu liefern, wurde sie von Carlos ausgebremst. „Das könnte uns weiterbringen“, sagte er interessiert und zog eine kleine Holzkiste ohne Deckel unter dem zerwühlten Bett des Studenten hervor.

      „Weil …?“, fragte Timo und erhielt die Antwort prompt, als ihm sein Kollege den Inhalt der Kiste vor Augen führte. Sie enthielt einen Stapel leicht vergilbter Fotos und Briefe, von denen der oberste An das Arschloch Tobias Mürle adressiert war. Der Stempel verriet das Datum: 8. Juli 2016.

      Behutsam stellte Carlos das Fundstück auf Tobias’ Bett, streifte sich Latexhandschuhe über und entnahm vorsichtig den Brief. Vorne und hinten kein Absender, wie zu erwarten. Aber das DIN-A4 große Blatt entschädigte die beiden Polizeibeamten für die fehlende Angabe des Verfassers. Carlos las laut vor, was in akkurater Handschrift auf dem Papier stand:

      Für deine Taten der Vergangenheit wirst auch du erfahren großes Leid – glaube ja nicht, dass deine Sünd verjährt, denn meine Rache ist dein Tod, der dir in Kürze widerfährt.

      „Volltreffer!“, rief Carlos aufgeregt.

      „Und ob“, entgegnete Timo und wandte sich nun doch an Lisa, die wie angewurzelt im Türrahmen stand und ziemlich perplex dreinschaute. „Sagt Ihnen das irgendetwas?“

      „Nein, gar nichts. Ich kann das kaum glauben. Davon hat Tobi kein Sterbenswörtchen erwähnt“, stammelte sie und war plötzlich so gar nicht mehr die selbstbewusste Revoluzzerin.

      „Behalten Sie die Information vorerst für sich“, erwiderte Timo scharf, während Carlos den Brief in die Kiste zurücklegte. Ein weiterer Fall für das Labor. Gemeinsam sahen sie sich noch einmal gründlich im Zimmer um. Doch weder die umfangreiche CD- und DVD-Sammlung, die auf dem Schreibtisch übereinandergestapelten Uni-Lehrbücher, noch die ordentlich im Kleiderschrank platzierten Jeans, T-Shirts, Boxershorts und Socken konnten weitere Aufschlüsse bringen. Mussten sie auch nicht. Jetzt haben wir eine heiße Spur, dachte Timo, der sich bei der Verabschiedung von Lisa einen mahnenden Blick nicht verkneifen konnte.

      „Du harter Bulle“, lachte Carlos im Treppenhaus auf dem Weg nach unten. Draußen nahm der Regen inzwischen richtig Fahrt auf, doch die Stimmung auf dem Rückweg zum Präsidium war gut. Wenn sie jetzt noch Fingerabdrücke auf dem Brief finden würden, wäre der Tag gerettet.

      „Wir haben ein Match“, strahlte Timos Innendienst-Kollege Kommissar Heldt, der die Fingerabdrücke mit der Datenbank des Polizeicomputers abgeglichen hatte und nun aufgeregt in den Besprechungsraum hereinplatzte. Timo, Carlos und ihr Vorgesetzter Paul Matuschka erhoben sich zeitgleich von ihren Stühlen.

      „Carolin Reiters, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Münster, also der Heimatstadt des Opfers“, präsentierte Heldt stolz seine Ergebnisse. „Sie ist uns bekannt, weil sie vor gut einem Jahr auf einer Party im Münsteraner Nachtclub Schwarzes Schaf einem männlichen Besucher die Nase gebrochen hat. Frau Reiters’ Anwalt plädierte auf Notwehr, aber das Gerichtsverfahren ergab, dass der junge Mann ihr lediglich einen Drink ausgeben wollte. Ihre Abweisung quittierte er mit einer Schimpftirade, wurde aber nicht gewalttätig. Sie hingegen hat voll zugeschlagen und ist seitdem vorbestraft.“

      „Die Poetin mit der stählernen Faust“, frotzelte Carlos.

      „Genau. Anscheinend mag da jemand keine Männer“, ergänzte Matuschka und griff zum Telefonhörer, um die Münsteraner Kripo-Kollegen zu kontaktieren. Er gab Carolin Reiters’ Adresse durch und erläuterte den aktuellen Stand der Ermittlungen. Mit der Gewissheit, dass noch heute Abend zwei Beamte der dringend Tatverdächtigen einen Besuch abstatten würden, beendete der Leiter der Berliner Mordkommission zufrieden das Telefonat.

      „Klingt vielversprechend“, konstatierte Timo. „Allerdings passt die Affekt-Schlägerei nicht zu dem rituell inszenierten Mord.“

      Matuschka runzelte die Stirn seines haarlosen Kopfes, der Timo stets an Telly Savalas alias Kojak erinnerte. „Jetzt sei mal optimistisch. Wann hatten wir schon mal so schnell ein handfestes Indiz? Und ein zügig aufgeklärtes Kapitalverbrechen wäre auch nicht schlecht für unsere Pressestelle.“

      Es war bereits nach zwanzig Uhr, als Timo und Carlos beim Thailänder um die Ecke ihre leeren Mägen füllten. Timo entschied sich für die Reisnudelsuppe mit Huhn, sein Kollege wählte gebratene Ente mit Gemüse, Zitronengras und Mangosauce. Jetzt hieß es abwarten. Wenn die Kripo vor Ort die Tatverdächtige noch heute in ihrer Wohnung antreffen würde, könnte ein fehlendes Alibi ein kleiner Durchbruch im Mordfall Tobias Mürle sein.

      Noch bevor Timo die überwürzte Suppe ausgelöffelt hatte, klingelte sein Mobiltelefon, das den Anrufer mit einem unverwechselbaren Foto als Kojak identifizierte. Timo nahm das Gespräch an und stellte sofort auf Lautsprecher, weil das Lokal beinahe leer war.

      „Sie war zur Tatnacht in Berlin. Ha. Ich wusste es ja“, rief Matuschka erfreut in den Hörer. „Die Kollegen in Münster haben Carolin Reiters vor ihrer Wohnungstür abgefangen. Sie hat unverblümt zugegeben, heute Mittag erst von einem Wochenausflug aus der Hauptstadt zurückgekehrt zu sein. Sie hat sich auch ohne Umschweife als Verfasserin des Drohbriefes zu erkennen gegeben. Als die Beamten sie aber mit dem Mord konfrontiert haben, hat sie am ganzen Leib gezittert und sogar versucht zu fliehen. Jetzt ist sie auf dem Münsteraner Polizeipräsidium und wird ausgiebig verhört.“

      „Klasse!“ Timo schluckte angestrengt ein Stück Hühnchen herunter, das er während Matuschkas Ausführungen vor lauter Spannung im Mund behalten hatte.

      „Also bis Montag. Saubere Arbeit, Leute“, beendete ihr Chef das Telefonat. Carlos grinste zufrieden und gab die Abendplanung vor. „Das sind gute News. Lass uns erst mal aufessen und danach das verspätete Wochenende mit ein paar Bier einläuten.“ Timo nickte zustimmend und orderte direkt zwei Pils.

      Aus dem einen Bier pro Mann wurden mindestens fünf. Sie machten es sich in dem asiatischen Restaurant gemütlich. Dann wollte Timo noch ein bisschen mit Stil saufen. Ihr Weg führte sie nicht zum ersten Mal, seit aus ihrem Kollegenstatus echte Freundschaft geworden war, in eine beliebte Gin Bar in Kreuzberg. Dort tranken sie exzessiv, bis Carlos gegen drei Uhr morgens sein Limit erreichte und nach einer kurzen, aber herzlichen


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