Rot ist die Rache. Stefan Huhn

Rot ist die Rache - Stefan Huhn


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Mercedes nach Hause chauffieren.

      Kurz vor vier zeigte Timos Armbanduhr, die er von Linda geschenkt bekommen hatte und die er trotz des ernüchternden Ausgangs der Beziehung gerne noch am linken Handgelenk trug. Der hochpromillige Kommissar zog Jacke und Schuhe aus und ließ sich auf sein Bett fallen. Als er die Augen schloss, drehte sich alles in seinem Kopf. Noch bevor ihm von der Bier-Gin-Mixtur in seinem Magen übel wurde, übernahm eine angenehme Müdigkeit die Kontrolle und schickte ihn in den wohlverdienten Schlaf.

      Während sich die Aspirin in dem mit Leitungswasser aufgefüllten Union-Berlin-Bierglas sprudelnd auflöste, trug Timo schon seine Jogging-Klamotten und biss lustlos in das mit Gouda belegte Toastbrot. Sein Hunger war begrenzt, doch irgendetwas musste nach dem Besäufnis und vor dem Laufen in den Magen.

      Timo schluckte den letzten Bissen herunter, trank das Glas in einem Zug leer und verließ in kurzer roter Trainingshose und schwarzer Kapuzenjacke seine Wohnung.

      Die ersten Schritte auf dem am Sonntag wenig bevölkerten Bürgersteig der Pflügerstraße in Neukölln verursachten noch leichte Kopfschmerzen, doch nach gut zwei Kilometern hatte Timo den Alkohol fast ausgeschwitzt. Die Luft war angenehm klar und im Vergleich zum Vortag lugte ein bisschen die Sonne hervor. Gutes Laufwetter. Jetzt konnte er auch wieder seinen Denkapparat einschalten. Ihm ging die gestrige Verhaftung von Carolin Reiters durch den Kopf. War es diesmal wirklich so einfach? Eine fahrlässig mit Fingerabdrücken hinterlegte Todesdrohung und wenige Wochen später der Mord? Timo konnte die Ergebnisse des Verhörs kaum abwarten und nestelte sein Handy aus der rechten Reißverschlusstasche seines Oberteils. Kein verpasster Anruf. Keine SMS. Keine WhatsApp-Mitteilung. Gerade als er sein Telefon wieder einstecken wollte, klingelte es.

      „Ich weiß, es ist Sonntag. Aber ich kenne deinen Ehrgeiz. Und dein langweiliges Privatleben“, eröffnete Timos Chef süffisant das Gespräch. So wie auch du am Wochenende nicht zur Ruhe kommst und dich nur allzu gerne vor deinen ehelichen Pflichten drückst, dachte Timo grinsend, sagte aber: „Stimmt. Also her mit dem Update. Was hat unsere Hauptverdächtige beziehungsweise bislang einzige Verdächtige gestern Abend noch zu Protokoll gegeben?“

      „Dass sie lediglich weggerannt sei, weil sie Schiss bekommen habe. Aus Affekt. Der Brief stamme von ihr, aber nur um Tobi zu erschrecken. Sie wäre jedoch nicht so dämlich und brutal, ihn gleich auch noch umzubringen. Ein Alibi hat sie bislang nicht. Zur Tatzeit sei sie allein in Berlin unterwegs gewesen. Besonders interessant ist der Grund für ihren Hass auf Herrn Mürle.“

      Matuschka machte eine wichtigtuerische Pause und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über das Kinn. Die Bewegung konnte Timo zwar nicht am Telefon, jedoch vor seinem geistigen Auge sehen. Er kannte diesen Akt der Spannungserzeugung von seinem Vorgesetzten nur zu gut und ließ ihn hilflos über sich ergehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr Matuschka fort. „Tobias scheint doch nicht der ach so freundliche Zeitgenosse zu sein, wie uns die Befragten bislang weismachen wollten. Zumindest gibt es einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit. Er war mit Carolin Reiters im selben Abiturjahrgang des Richard-Wagner-Gymnasiums in Münster und soll ihr auf der Abschlussfahrt in Madrid nach Zuführung von K.-o.-Tropfen unter den Rock gefasst haben. Dabei wäre sie aufgewacht und habe sich erfolgreich gewehrt. Das ist zumindest ihre Version. Zeugen gibt es keine, aber Frau Reiters besitzt noch die Untersuchungsergebnisse eines Arztes vor Ort, den sie am nächsten Tag aufgesucht hatte. Dort steht angeblich, dass man Schlafmittelsubstanzen in ihrem Blut gefunden habe. Die zuständigen Lehrer hätten den Vorfall einfach links liegen lassen und sie mit ihrer Not allein gelassen. Auch der Schuldirektor habe keine Anstalten gemacht, die Sache weiter zu verfolgen und sowohl den Test als auch die sexuelle Nötigung unter den Teppich gekehrt.“

      „Wenn alles stimmt, ist das natürlich ungeheuerlich. Aber es macht sie ja nur noch verdächtiger“, warf Timo ein. Matuschka räusperte sich am anderen Ende der Leitung den Hals frei. „Herr Mürles mögliche Schuld von damals wird nicht mehr zu beweisen sein, aber Frau Reiters will alles offenlegen, um den Brief zu erklären. Jedoch nicht, um den Mord zu gestehen. Sie hat bislang sogar auf einen Anwalt verzichtet, obwohl sie die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen musste.“

      Timo behielt sein Lauftempo bei, konnte ein leichtes Hecheln aber nicht unterdrücken. „Wurde irgendetwas in ihrer Wohnung gefunden, was mit der Tat in Verbindung gebracht werden kann?“

      „Nix. Kein Skalpell oder Ähnliches. Lediglich herkömmliche Küchenmesser, die nicht mit den Wunden am Opfer kompatibel sind. Alles Weitere morgen auf dem Kommissariat. Und sag Bescheid, wenn du mal wieder joggen gehst.“

      „Na, jeden Mittwoch und Sonntag – das weißt du doch“, erinnerte Timo seinen Chef an die ihm bekannte Laufroutine. Aber Matuschka hatte schon aufgelegt. So kann man sich auch vor körperlicher Bewegung drücken, dachte Timo. Der Mann war keineswegs unsportlich. Doch die Büroarbeit der letzten Jahre sowie das tatsächlich gute Kantinenessen hatten dem Sechsundfünfzigjährigen einen mittelschweren Bauch verpasst. Vor Timos Augen tat sich nun das Tempelhofer Feld auf, das er in einer anspruchsvollen Geschwindigkeit einmal umrundete, um dann über den nördlich gelegenen Volkspark Hasenheide den Bogen zurück zu seiner Wohnung zu schlagen.

      Drei

      „Aber ich bin doch keine Mörderin“, schluchzte Carolin Reiters unter Tränen hervor und machte ihrem Anwalt mit einer abwinkenden Handbewegung klar, dass sie sein Taschentuch nicht benötigte.

      Timo war nach Absprache mit seinem Chef am Montagmorgen persönlich im Polizeipräsidium von Münster aufgetaucht, um mit den Kollegen vor Ort Licht ins Dunkel der Morduntersuchung zu bringen. Doch so schleierhaft kam der Fall auf den ersten Blick gar nicht daher. Frau Reiters besaß ein Motiv, befand sich zur Tatzeit in Berlin und konnte kein Alibi beibringen. Mitarbeiter und Besucher der Jugendherberge, in der sie während der besagten Woche abgestiegen war, konnten sich nicht an die junge Frau erinnern. Das hatten Timo und Carlos bereits am Montag gecheckt.

      „Noch mal. Sie sind auf eigene Faust durch Berlin gezogen, haben einige Bier getrunken und anschließend die Nacht im Cage Club bis circa drei Uhr morgens verbracht. Und dabei haben Sie mit niemandem Kontakt aufgenommen. Machen Sie das immer so? Ganz allein feiern?“, fragte Timo bewusst provozierend.

      Auch ein Besuch bei den von der Tatverdächtigen angegebenen Kneipen und dem Cage Club hatte ins Leere geführt. Kein Zeuge, der sich an die Person auf dem Foto, das die Münsteraner Kripobeamten den Hauptstadt-Kollegen zugeschickt hatten, erinnern konnte.

      „Normalerweise lerne ich ja auch schnell jemanden kennen. Aber diesmal wollte ich einfach nur tanzen. Hätte ich diesen Scheißbrief bloß nicht geschrieben. Die Aktion war halt ein Frustventil. Was glauben Sie, wie hart das alles für mich war und ist? Ich habe damals sogar die Schule wechseln müssen, um nicht mehr in Tobis Nähe zu sein. Ich bin auch zu keinem Klassentreffen gegangen. Obwohl doch er das Arschloch ist, nicht ich. Können Sie das nicht verstehen?“ Jetzt liefen wieder Tränen über Carolins Wangen.

      Außer Timo, Carolin und ihrem Anwalt, den sie auf Anraten ihrer Eltern nun doch eingeschaltet hatte – anfangs dachte sie, ein Rechtsbeistand wirke verdächtig – saß noch Kriminalhauptkommissarin Ingrid Möllers im Vernehmungsraum. Diese brachte sich nun in das Verhör mit ein. „Voll und ganz, Frau Reiters. Wir können Ihr Leid verstehen, die Vorkommnisse auf Ihrer Stufenfahrt waren bestimmt enorm belastend für Sie. Leider ist der vermeintliche Täter von damals nun tot und Sie kommen nicht nur aus den genannten Gründen für dessen Ermordung infrage, sondern sind der Polizei bereits einmal wegen Ihrer Aggressionen aufgefallen. Sie sind vorbestraft wegen Körperverletzung, bedenken Sie das bitte.“

      „Aber doch nur, weil …“, jetzt brach es aus Carolin vollends heraus und diesmal nahm sie das Angebot ihres Anwalts an und schnäuzte kräftig in das Taschentuch.

      „An dem Punkt waren wir schon gestern“, meldete sich dieser zu Wort. „Müssen wir das alles wiederholen? Sie merken doch, wie ungern meine Mandantin daran zurückdenkt. Frau Reiters hat ihre Schuld eingesehen und die Sozialstunden vorbildlich abgeleistet. Sie engagiert sich immer noch ehrenamtlich in dem Verein für Schutz suchende Missbrauchsopfer.“

      „Damit unser Kollege Scherder sich selbst ein Bild machen kann, ist es wichtig,


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