Rot ist die Rache. Stefan Huhn

Rot ist die Rache - Stefan Huhn


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Einsparungen beim Personal. So hatte Ira es im Zuge eines Praktikums in einer Hamburger Firma für Karneval- und Halloween-Kostüme live miterlebt. Doch sie würde dafür sorgen, stets auf der Seite der Gewinner zu stehen. War die See ruhig, gab sich Ira so kollegial und gesellschaftskompatibel wie nötig. In stürmischen Zeiten aber würde sie ihren harten Kern ausspielen und mit allen Bandagen kämpfen.

      Als Ira in ihre spärlich belegte Tiefkühlpizza biss, dachte sie nicht mehr an Roman und seine merkwürdigen Andeutungen. Stattdessen plauderte sie mit Mareike über die nicht immer einwandfreie Körperhygiene der Mitglieder ihrer IT-Abteilung und den nerdigen Social-Media-Manager. Was einen erwachsenen Mann dazu brachte, in seiner Freizeit Actionfiguren von den Ninja Turtles zu sammeln, blieb für die beiden Frauen ein Rätsel. Auch die x-te Fortsetzung eines Superheldenfilms aus dem Hause Marvel war nicht gerade ihr Lieblingsthema. Dafür hatten sie Stoff zum Lästern. Und das empfand Ira als nette Abwechslung zum Texten über die Beschaffenheit von Babystramplern und den Aufdruck von Kleinkinder­shirts. Soweit alles in Ordnung. Business as usual. Was sie nicht ahnen konnte – am Horizont ihrer scheinbar sicheren Existenz braute sich ein Unwetter zusammen.

      Frederick war ganz allein. Saß an der Kasse der Filiale, zu der er tagtäglich zur Arbeit ging. Keine Kunden und keine Kollegen weit und breit. Er wollte aufstehen, raus aus dem Laden. Doch er konnte es nicht, fast so, als würde er an seinem Stuhl festkleben. Irgendetwas stimmte hier nicht. Lauthals rief Frederick um Hilfe. Niemand kam. Sein Ruf verhallte in dem riesigen Gebäude. Stattdessen suchte sich eine schwarze Nebelwand ihren Weg aus dem hinteren Thekenbereich bis nach vorne zu den Kassen. Verschlang die Regale, den Fußboden und alles, was sich ihr in den Weg stellte. Frederick bekam es mit der Angst zu tun, war aber weiterhin nicht in der Lage, seinen Platz zu verlassen.

      Bis sich plötzlich das Warenlaufband rückwärts in Bewegung setzte und Frederick aus seinem Stuhl herauszog. Hilflos krabbelte er auf allen vieren, doch je schneller er sich bewegte, desto schneller lief auch das Band in Richtung Nebel. Dieser hatte Frederick jetzt erreicht, hüllte ihn ein und verursachte ein scharfes, kratzendes Gefühl in seinen Atemwegen. Auf einmal baute sich eine vermummte Gestalt vor ihm auf. Sie hielt ein blitzendes Messer in den hoch erhobenen Händen, bereit, auf Fredericks zitternden Körper einzustechen. Frederick schloss die Augen und hoffte inständig, dass alles schnell vorübergehen würde. Sekunden verrannen, nichts passierte.

      Als Frederick die Augen öffnete, hatte der Nebel den unheilvollen Fremden wieder eingehüllt, das Band stand still. Frederick sprang herunter und hatte endlich festen Boden unter den Füßen. Die Eingangstüren waren nicht weit entfernt, er würde sie auch im Nebel finden, kannte er doch die Umgebung nur allzu gut. Tastend arbeitete sich Frederick vor. Auf halbem Wege streifte seine rechte Hand ein Stück Papier. Hier muss der Zeitungsständer sein, dachte er.

      Schau dir die Titelseite an, flüsterte eine innere Stimme. Frederick wusste nicht warum, aber er tat wie ihm befohlen, nahm die oberste Zeitung und hielt sie ganz nah an sein Gesicht, damit er die Buchstaben trotz der Nebelschwaden erkennen konnte: Es gibt ein drittes Opfer – Frederick L. am Arbeitsplatz erstochen.

      Noch während Frederick sich der Bedeutung der Worte bewusst wurde, erschien wie aus dem Nichts erneut das schattenähnliche Wesen und kam über ihn. Das Letzte, was Frederick spürte, war das kalte Metall, das tief in seinen Hals eindrang, und das warme Blut, das aus der Wunde über seinen Oberkörper strömte.

      Mit einem lauten Schrei wachte Frederick auf. Gott sei Dank, dachte er, nur ein Traum. Ein irrer Traum. Die Erleichterung wich umgehend der Erkenntnis, dass er keinen blassen Schimmer hatte, wo er sich befand.

      Zuerst nahm er in der Dunkelheit nur Umrisse der Umgebung wahr. Schemenhafte Formen. Dazu ein monotones Summen, dessen Ursprung er nicht zuordnen konnte. Langsam wurde das Bild vor seinen Augen klarer. Er erkannte ein schiefes Regal aus Holz, das mit einem halben Dutzend Schuhkartons bestückt war, und einen Abstelltisch, in dessen Mitte ein aufgeschlagener Notizblock lag.

      Wie war er hierhergekommen? Langsam richtete er seinen Oberkörper auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den nachgebenden Untergrund. Er lag auf einer alten, fleckigen Matratze ohne Laken. Sein Kopf dröhnte, ihm war schwindelig und übel. Der Raum, in dem er sich befand, hatte keine Fenster, eine Stehlampe neben der Zimmertür spendete helles Licht. Frederick hielt einen Moment inne, bis sich die Übelkeit etwas gelegt hatte, und setzte einen Fuß nach dem anderen auf den steinernen Boden. Er stand auf, schritt behutsam zur Tür und drückte die silberfarbene Klinke herunter. Nichts passierte. Frederick drückte sie abermals nach unten, rüttelte an der Tür. Vergebens. Er war eingeschlossen.

      Jetzt dreh bloß nicht durch. Bleib ruhig und denk nach, befahl er sich. Woran kannst du dich erinnern? Frederick musste einen Anhaltspunkt finden, war aber zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen. War es Tag oder Nacht? Er tastete seine Hosentaschen ab. Geldbörse und Handy waren weg. Hatte man ihn ausgeraubt? Warum sollte er dann hier eingesperrt sein, das machte keinen Sinn. Er war kein Sohn reicher Eltern, sondern nur ein kleiner Azubi, der … Jetzt schoss es ihm durch den Kopf. Wie er nach der Arbeit mal wieder auf dem Balkon gesessen hatte. Und da war die Gestalt auf der anderen Straßenseite. Er hatte einer Mörderin bei der Arbeit zugesehen. Und war hinterhergerannt. Erst bis in die S-Bahn und dann … dann wurde alles schwarz.

      Hatte die Wahnsinnige ihn hier eingesperrt? Frederick blickte sich in dem keine sechzehn Quadratmeter großen Raum noch einmal um. Am Kopfende des Bettes stand ein weißer Kasten. Nein, das war ein Kühlschrank. Daher kam das Summen. Jetzt erst bemerkte Frederick, was für einen Durst er hatte. Kein Wunder, er wusste ja nicht einmal, wie lange er hier geschlafen hatte. Frederick riss die Kühlschranktür auf und erblickte eine Packung mit Salamischeiben, ein Stück Käse, eine Tüte H-Milch und vier Literflaschen stilles Mineralwasser. Hastig entnahm er eine, schraubte den Deckel ab und trank sie in einem Zug halb leer.

      Als Frederick die Plastikflasche absetzte, kam ihm der nächste logische Gedanke. Was tun, wenn ihm später einmal die Blase drücken sollte? Doch nicht etwa … Er schaute sich den Eimer aus Metall in der hinteren rechten Ecke genauer an. Tatsächlich. In ihm befanden sich zwei Rollen Klopapier. Das war also seine Toilette. Angewidert entschied sich Frederick, die Verrichtung seiner Notdurft so lange wie möglich hinauszuzögern. Am besten fand er vorher einen Weg hier raus. Was war wohl in den Räumen neben seiner Gefängniszelle? Hastig klopfte Frederick mit beiden Händen die kahlen Wände in der Hoffnung ab, er könne einen Hohlkörper erhorchen, einen verborgenen Raum entdecken. Leider ohne Erfolg. Jede der vier Wände gab denselben dumpfen Klang ab. Auch dass Frederick gegen die Tür hämmerte, führte zu nichts. Anscheinend war sie von außen mit Schallschutz verstärkt, so sehr verpuffte die akustische Wirkung seiner trommelnden Fäuste. Frederick hielt erschöpft inne und dachte nach. Erneut fragte er sich, welchen Zweck die Täterin damit verfolgte, ihn hier festzuhalten. Wenn sie Frederick hätte umbringen wollen, wäre das längst geschehen.

      Niedergeschlagen ließ er sich auf die Matratze fallen. Der Notizblock! Vorhin war er noch zu benebelt gewesen, um gleich darauf zu kommen. Frederick schnellte hoch und griff nach dem Block. Auf der aufgeschlagenen ersten Seite stand geschrieben:

      Wenn du um Hilfe schreist oder versuchst zu fliehen, bist du tot! Wenn du leben willst, verhalte dich ruhig. In wenigen Tagen wird dich jemand befreien. Genug Lebensmittel sind im Kühlschrank. Entscheide selbst über dein Schicksal!

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