Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner


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Nadim vor Augen zu haben, und ebenso schön, mit anzusehen, wie Sameera sich entspannte. Ihr gemeinsamer Marktbummel in Srinagar nach Sameeras letztem Training war vielversprechend verlaufen: Erst nach gut zehn Minuten hatte Sameera Sita angerufen und zu sich gebeten; verglichen mit ihren früheren Panikattacken war das ohne Frage als Fortschritt zu betrachten. Und nun genoss sie ebenso wie ihr Mann Vikram ihre Auszeit in Gulmarg, während das Dar-as-Salam und die Kinder sich in den fähigen Händen verlässlicher Freunde und des neuen, tüchtigen Wachmanns Rizwan Padar befanden.

      Aber auch die beste Auszeit hatte irgendwann ein Ende, und jetzt stand die Abreise unmittelbar bevor. Immerhin konnten sie jederzeit wieder nach Gulmarg kommen – gesetzt den Fall, dass der nach wie vor höchst fragile Friede im Tal hielt und nicht allzu schnell wieder zerbrach.

       Man konnte nur das Beste hoffen.

      Sita wuchtete den Koffer vom Bett herunter und richtete sich wieder auf. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Mann, der in der Zimmertür erschienen war; seine braunen Augen funkelten unternehmungslustig.

      »Kommst du?«, fragte er lächelnd. »Die Qasibs warten mit dem Frühstück auf uns.« –––

      Gäste und Familie versammelten sich zu einer Abschiedsrunde im Haus von Nabil Qasib. Ayesha hatte aufgefahren, was ihre Küche an Köstlichkeiten hergab, und die Stimmung war so gut, dass man bereits anfing, Pläne für den kommenden Sommer zu schmieden.

      »Bislang habt ihr Gulmarg nur im Herbst und Winter erlebt; es wird höchste Zeit, dass ihr auch mal in der warmen Zeit des Jahres hierherkommt«, meinte Nadim. »Und es freut uns so sehr, euch hier zu haben… nicht nur euch, sasur und saas«, und damit warf er seinen Schwiegereltern einen Blick tiefer Zuneigung zu, »sondern auch euch, Raja und Sita. Und eure Kinder sowieso, alle beide. Wenn ich mir Mohan und Rani anschaue, dann weiß ich wirklich nicht, ob ich mir einen Sohn oder eine Tochter wünschen soll, wenn Allah uns eines Tages Kinder schenkt.« Er zwinkerte seiner jungen Frau zu; Zeenath lief knallrot an und schlug die Augen nieder.

      Sameera drückte Mohan an sich und hinderte ihn mit sanfter Gewalt daran, an dem Buddha-Anhänger zu ziehen, den sie um den Hals trug.

      »Was immer ihr bekommt«, sagte sie, »seid weise und freut euch über beides.« Sie wandte sich Sita zu. »Übrigens, meri behn – du hast Zeenath gestern doch versprochen, noch einmal für sie zu singen, bevor wir abreisen. Du solltest allmählich damit anfangen; in weniger als einer Stunde ist Karim hier, um uns abzuholen.«

      Zeenath richtete sich auf und faltete wie ein eifriges Kind die Hände. »Oh ja, bitte!«

      Sita schaute sich um und sah sich mit lauter erwartungsvollen Augenpaaren konfrontiert. Sie lächelte.

      »Gerne. Was möchtet ihr denn hören?«

      Zeenath wünschte sich als Erstes das Wiegenlied So Ja Chanda aus dem Film Mission Kashmir (»damit ich es eines Tages meinen eigenen Kindern vorsingen kann«). Sita erfüllte ihr diesen Wunsch und ging dann zu den kashmirischen Volksliedern über, die Ayesha ihr in den vergangenen Tagen beigebracht und die sie problemlos im Ohr behalten hatte; sie hatte ein sicheres Gedächtnis für Texte und Melodien. Als sie Bumbro anstimmte, das heitere Lied von der Hummel, sangen sämtliche Qasibs schon den ersten Refrain aus voller Kehle mit und schlugen mit den Händen den Takt dazu, und die Stimmung stieg noch mehr bei dem raschen, fröhlichen Rind Posh Maal.

      Die Runde endete mit dem lyrisch sanften Janani Saal Saalai – beziehungsweise sie hätte es getan, wenn Sitas Zuhörer nicht so energisch wie erfolgreich eine Zugabe gefordert hätten. Also sang sie noch einmal Rind Posh Maal, und jetzt standen Ayesha und Zeenath auf, nahmen sie bei der Hand und zogen sie in einen wiegenden Rundtanz mitten in dem großen Wohnzimmer hinein. Sita, der das Tanzen ebenso leichtfiel wie das Singen, passte sich den Schritten mühelos an und warf Sameera einen Blick zu, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Sameera reichte Mohan an Vikram weiter, erhob sich mit einem Seufzer und fügte sich in ihr Schicksal. Jetzt sangen und tanzten die Frauen zu viert (zu fünft, wenn man Rani mitrechnete, die den einfachen Reigen ebenso schnell begriff wie ihre Mutter); die Männer klatschten den Rhythmus dazu, und die improvisierte Vorstellung wäre sicher noch eine ganze Weile so weitergegangen, wenn nicht um kurz nach eins draußen vor dem Haus der große Viano vorgefahren wäre, den Najiha Kamaal ihren Freunden mitsamt ihrem Fahrer Karim für diesen Abstecher nach Gulmarg zur Verfügung gestellt hatte.

      Also gingen Tanz und Gesang in eine herzliche Verabschiedung über. Vikram und Raja bedankten sich noch einmal bei Zeenath für ihre Sherwanis, die Gastfreundschaft der Qasibs wurde in den leuchtendsten Farben gepriesen und die Einladung für den Sommer (und den darauffolgenden Winter ebenfalls) gleich mehrfach erneut ausgesprochen. Danach traten Familie und Gäste hinaus in die weiße Landschaft unter einem strahlend blauen Himmel und machten sich auf den Weg zum Wagen.

      Zu ihrer Verwunderung stellte Sita fest, dass Karim ganz gegen seine Gewohnheit den Kofferraum noch nicht geöffnet hatte. Dann sah sie, dass er an der Motorhaube seines Wagens lehnte und auf sein Smartphone starrte. Auf dem Hinweg hatte sie ihn das mehrfach tun sehen; so war er sichergegangen, dass es nirgendwo auf der Strecke Ärger gab und er nicht unversehens in Straßensperren hineinfuhr. Jetzt runzelte er die Stirn, und sein Gesicht war merkwürdig blass.

      Sie trat auf ihn zu. »Alles in Ordnung, Karim?«, erkundigte sie sich besorgt.

      Er sah sie an und presste die Lippen zusammen. »Das weiß ich nicht sicher, Sharma sahiba«, sagte er knapp. Dann entdeckte er Vikram, der gerade einen Koffer in Richtung Auto trug. »Sandeep sir? Kommen Sie mal her, bitte?«

      Vikram hob beim Klang seiner Stimme ruckartig den Kopf und war mit wenigen raschen Schritten bei ihm. Jetzt neigten sich zwei Gesichter über das Handydisplay, und beide schauten gleichermaßen bestürzt drein. Sita spürte, wie Raja neben sie trat; er hielt Rani an der Hand.

      »Was ist denn, meri chandni?«, fragte er leise. »Schwierigkeiten?«

      Noch ehe Sita antworten konnte, war Vikram bereits wieder an ihnen vorbeigehastet. Er blieb vor Nabil Qasib stehen.

      »Ich muss dich um einen Gefallen bitten, mera dost«, sagte er. »Dürfen wir mal dein Fernsehgerät benutzen?«

      Nabil musterte ihn, und seine eben noch so gut gelaunte Miene wurde schlagartig ernst.

      »Selbstverständlich«, entgegnete er.

      Er verschwand im Haus, Vikram dicht auf den Fersen. Karim eilte hinterher, und nach kurzem Zögern gingen auch Ayesha, Zeenath und Nadim wieder hinein. Raja, der die gesamte Szene sehr aufmerksam verfolgt hatte, beugte sich zu seiner Tochter hinunter und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange.

      »Bleibst du kurz bei Mama?«, sagte er sanft. »Papa muss schnell was nachsehen.« Er warf Sita einen sprechenden Blick zu, und die nickte unmerklich. Was immer da im Argen lag, es war sicherlich nicht gut, wenn Rani es mitbekam.

      Es dauerte lange Minuten, bis Vikram und die anderen wieder ins Freie traten. Sita sah, wie Vikram zu Sameera ging, die mit Mohan auf dem Arm auf ihn wartete; dann kam Raja zu ihr. Wieder bückte er sich und lächelte Rani an, allerdings merkte Sita deutlich, dass es ihm äußerst schwerfiel.

      »Setz dich doch schon mal in den Wagen, Schatz«, sagte er. »Wir kommen sofort, und dann geht’s gleich los, ja?«

      Rani nickte und kletterte widerspruchslos in den Van. Sita war mehr als dankbar dafür, denn jetzt konnte sie ihren Mann endlich fragen, was eigentlich passiert war.

      »In Srinagar hat es eine schwere Explosion gegeben«, erklärte er leise. »Den Nachrichten zufolge ist das halbe Büro von Gulmohar in die Luft geflogen, und die andere Hälfte ist vollkommen ausgebrannt. Man weiß bisher nicht, ob es Tote gegeben hat. Die Glut der Ruine strahlt eine solche Hitze aus, dass die Feuerwehrleute noch warten müssen, bis sie mit der Suche anfangen können.«

      »Gulmohar?« Sita schnappte entsetzt nach Luft. »Aber das ist doch Najihas Partei!«

      »Stimmt.« Jetzt stand auch Vikram neben ihnen. »Das Problem ist, dass wir Najiha nicht erreichen


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