Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
aus Dardpura an und die Verbindung war furchtbar schlecht. Sie hat mir gesagt, dass Fadwa Aziz im Sterben liegt.«
Raja betrat das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. »Wer ist Fadwa Aziz?«, fragte er.
Najiha drehte sich zu ihm um; ein sehr kleines Licht blitzte in ihren Augen auf.
»Eine wunderbare alte Frau«, sagte sie. »Sie ist vor einigen Jahren einem Rudel Soldaten in die Hände gefallen, die feige genug waren, ihre Hilflosigkeit auszunutzen. Trotzdem hat sie versucht, ihr Leben einigermaßen in Würde fortzuführen. Sameera hat sie kennengelernt, als sie seinerzeit zum ersten Mal mit mir nach Dardpura gefahren ist.«
»Vor ein paar Monaten haben die Ärzte festgestellt, dass sie Krebs hat«, erklärte Sameera leise. »Im Endstadium, und sich aufwendig behandeln lassen wollte sie nicht mehr.«
»Aber sie wollte mich sehen.« Najiha nahm Sameeras Hand und drückte sie. »Ich habe sie jahrelang immer wieder besucht, und sie… liegt mir am Herzen. Nicht nur, weil sie Tarek noch gekannt hat und er sie so gernhatte.« Sie schluckte. »Ich bin sofort aufgebrochen und mit Janveer nach Dardpura gefahren.«
»Dann haben wir es also offensichtlich Fadwa Aziz zu verdanken, dass du noch am Leben bist«, sagte Raja, stellte die Thermoskanne und die Schüssel auf den Tisch und holte ein paar Gläser aus dem Schrank. »Hier, falls du eine kleine Stärkung brauchen kannst.«
»Und wie ich die brauchen kann.« Najiha wollte sich Tee eingießen; als Raja jedoch sah, dass ihre Finger heftig zitterten, nahm er ihr sanft die Kanne ab, füllte ein Glas und drückte es ihr in die Hand. Najiha trank einen Schluck und lächelte. »Das tut gut – danke.«
»Gern geschehen.« Er warf einen Blick in die Runde, während er Platz nahm. »Ihr auch – bedient euch, wenn ihr wollt; Zobeida macht noch mehr, falls uns der Vorrat ausgeht. Entschuldigt, ich wollte euch nicht unterbrechen.«
»Kein Problem, ich war sowieso fast fertig«, meinte Najiha. »Ich muss nur noch gestehen, dass ich in der Hektik heute Morgen zum ersten Mal vergessen habe, mich abzumelden. Und als mir das unterwegs einfiel und ich schnell noch eine SMS an Amal und an Karim schicken wollte, da hatte ich bereits keine Netzverbindung mehr.«
»Mit der Folge, dass halb Srinagar dich für tot gehalten hat, als wir vorhin aus Gulmarg zurückgekommen sind«, warf Vikram ein. »Du hast uns einen bösen Schrecken eingejagt, meri ladki.«
»Das tut mir sehr leid.« Najiha leerte den Rest des Glases und hielt es Raja noch einmal hin, der es kommentarlos nachfüllte.
»Und wie hast du dann erfahren, was passiert ist, wenn du keinen Handyempfang hattest?«, erkundigte sich Sita.
»Während der Rückfahrt«, antwortete Najiha. »Irgendwann war ich wieder halbwegs in der Zivilisation, und da hat mein Handy schlagartig losgelegt: eine Nachricht nach der anderen, und immer panischer noch dazu. Ich hab zuallererst Farideh angerufen – damit meine Tochter nicht womöglich im Fernsehen miterleben muss, wie die Leute über den Tod ihrer Mutter reden. Danach habe ich mit Amal telefoniert, und als nächstes wollte ich euch verständigen. Aber da waren wir ohnehin nur noch wenige Meilen vom Dar-as-Salam entfernt; also hab ich zu Janveer gesagt, dass er auf direktem Wege hierherfahren soll, damit ihr wenigstens gleich alle Bescheid wisst. Und ich gebe zu, der Gedanke hat mir gutgetan, hier vorher noch mal durchatmen zu können, bevor ich mich dem Chaos in Srinagar stellen muss.«
»Gibt es denn schon Hinweise, wer diese Explosion zu verantworten hat?«, fragte Raja.
Najiha schüttelte den Kopf. »Ich weiß im Moment auch nur, was in den Nachrichten gebracht wurde, und dort war von Bekennerschreiben oder Ähnlichem bislang nicht die Rede. Abgesehen davon könnten es die Handlanger von einem Dutzend Parteiführer gewesen sein, außerdem die Agenten der Geheimdienste von Pakistan und Indien. Nicht zu vergessen ein paar Geschäftsleute, die hier in den letzten Jahren liebend gern abgesahnt hätten, wenn ich nicht erfolgreich dazwischengegangen wäre. Such’s dir aus, mera dost.« Ihr Gesicht verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Ich bin sicher, in einigen Büros und Parteizentralen sind bereits verfrühte Freudentänze aufgeführt worden.«
»Und Betroffenheitserklärungen hervorgeholt, die längst fertig geschrieben in irgendwelchen Schubladen lagern«, ergänzte Raja finster. »Genau wie bei der Presse. Apropos – wer informiert diese Hyänen jetzt eigentlich darüber, dass sie ihre Schlagzeilen schleunigst ändern sollten? Amal? Euer Pressebüro dürfte derzeit ja wohl außer Betrieb sein.«
»Wohl wahr«, sagte Najiha müde. »Alles liegt in Schutt und Asche. Und… ich fürchte, ich werde mir auch eine neue Buchhalterin suchen müssen.«
Vikram blickte auf. »Die Frauenleiche, die die Feuerwehr gefunden hat, das war…«
»… Almas Desouli«, ergänzte Najiha den Satz. »Meine Buchhalterin. Ihr Mann ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hat sie mit zwei Kindern zurückgelassen. Sie brauchte Arbeit, und ich hab ihr eine gegeben. Sie war sehr dankbar und sehr zuverlässig, und sie ist heute im Büro gewesen. Ich habe noch kurz mit ihr gesprochen, bevor ich nach Dardpura fuhr, und ihr einen schönen Tag gewünscht. Und jetzt ist sie tot.«
»Meine Güte«, sagte Sita tonlos. »Und zwei Kinder, sagst du?«
»Ein Junge und ein Mädchen – Sinan und Salma, zwölf und elf Jahre alt.« Najiha rieb sich die Stirn. »Wer jetzt für sie sorgen soll, das weiß der Himmel.«
Sameera und Vikram wechselten einen Blick.
»Gibt es Verwandte?« fragte Vikram. »Onkel, Tanten, Großeltern… irgendjemanden?«
»Ich fürchte, nein.«
»Wo sind die Kinder jetzt?«, wollte Sameera wissen.
»Bei Amal und seiner Frau«, antwortete Najiha. »Er hat schnell reagiert und sie zuhause abgeholt, damit sie nicht vom System verschluckt werden; das passiert hier ja schnell genug, wenn man nicht aufpasst. Aber auf Dauer können sie bei ihm nicht bleiben.«
Sie sah Vikram an.
»Würdest du sie aufnehmen? Ich weiß, das Dar-as-Salam ist eigentlich voll belegt, und es wäre wirklich nur, bis ich etwas anderes für die beiden gefunden habe, aber… würdest du?« Ihr Blick wanderte zu Sameera. »Würdet ihr?«
Sameera nickte schweigend.
»Sag deinem Sekretär, er soll sie herbringen«, sagte Vikram. »Sie sollen hier erst einmal ein bisschen zur Ruhe kommen, dann sehen wir weiter.«
»Ihr könnt sie ja in unserem Gästezimmer einquartieren, wenn wir wieder abreisen«, schlug Sita vor.
»Oder ihr gebt ihnen Azads Zimmer«, fügte Raja hinzu. »Ich bin sicher, er hätte nichts dagegen, zumindest vorübergehend bei seiner Ameera unterzukriechen.«
»Sehe ich auch so.« Vikram lächelte. »Und bis wir eine Lösung gefunden haben – oder Najiha einen anderen Platz –, rücken wir hier ein bisschen zusammen. Das geht schon.«
»Danke«, murmelte Najiha, den Blick zu Boden gerichtet. »Ich weiß nicht, was ich… Danke.«
»Du solltest nach Hause fahren«, sagte Sameera sanft. »Du bist erschöpft, und es wird dir sicher guttun, deine Tochter zu sehen.«
Najiha schwieg eine Weile. Dann hob sie den Kopf; ihr Gesicht war bleich und hart geworden.
»Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Ich kann nicht in dieser Verfassung zu ihr kommen. Nicht mit dieser Wut in mir. Ich möchte um mich schlagen… und ausnahmslos alle treffen, die dieses Tal für einen Kadaver halten, den man ungestraft schänden und ausweiden darf. Was für ein Glück, dass ich gerade keine Waffe habe – ich könnte für nichts garantieren!«
Einen langen Moment war es sehr still. Dann war es Sita, die antwortete.
»Wenn du die Wut in dir nicht mit nach Hause nehmen willst«, sagte sie ruhig, »dann lass sie einfach hier. Sprich aus, was dich zornig macht. Schrei die Wände an, oder meinetwegen auch uns – so lange, bis