Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner


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zu machen. Nach seiner Aussage wollte Najiha heute den ganzen Tag im Parteibüro zubringen, weil sie sich auf eine schwierige Sitzung nächste Woche vorbereiten muss.«

      »Und weil sie uns morgen besuchen wollte, um dich und Raja zu sehen.« Das war Sameera. Ihre Stimme war leise und sehr ruhig, aber die bodenlose Furcht in ihren Augen wirkte wie ein mühsam unterdrückter Schrei.

      Sita spürte, wie ihr übel wurde, aber sie nahm sich zusammen. »Dann müssen wir so rasch wie möglich zurück«, erwiderte sie, »um herauszufinden, was passiert ist. Vielleicht ist Najiha ja auch einfach irgendwo, wo es keinen Handyempfang gibt. Das wäre eine Erklärung dafür, dass man sie nicht erreichen kann, und dass sie sich nicht meldet.«

      »Bloß, dass sie normalerweise jeden Schritt, den sie tut, mit Amal abstimmt. Und mit Karim ebenfalls.« Vikrams Gesicht war grimmig. »Aber du hast recht. Wir müssen zurück, so rasch wie möglich.«

      ***

      Wenige Stunden später hielt der Viano vor dem Dar-as-Salam. Vikram hatte von unterwegs aus dort angerufen, Zobeida und Hamid über die Situation in Kenntnis gesetzt und Rizwan Padar gebeten, seinen Dienst an diesem Tag zu verlängern und sicherheitshalber bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Nun brachten sie in aller Eile ihr Gepäck ins Haus; Mohan wurde rasch gefüttert und zu einem Schläfchen hingelegt.

      Sita fiel auf, dass keines der Kinder über die Explosion in Srinagar sprach; offenbar hatten Zobeida und Hamid sich an Vikrams Anweisung gehalten und ihnen vorerst nichts davon erzählt. Die Größeren schienen zwar zu ahnen, dass etwas nicht stimmte, aber sie reagierten mit der Selbstverständlichkeit von Kindern, die an die Gefahr in Kashmir mehr als gewöhnt waren; sie verließen sich darauf, dass ammi und baba sie informieren würden, wenn es an der Zeit war, und hielten sich bis dahin »aus der Schusslinie«. Zooni und Maryam luden Rani ein, mit ihnen ein Bild zu malen, und so fand sich Sita wenig später bei den anderen Erwachsenen im Aufenthaltsraum ein, wo hinter verschlossenen Türen der Fernseher lief.

      »… von dem Bürogebäude nur noch verkohlte Trümmer übrig«, sagte ein Reporter gerade in die Kamera. Er stand in der Gasse vor der Ruine des Parteibüros, aus der es immer noch rauchte. »Vor wenigen Minuten hat die Feuerwehr an der Stelle, wo sich vor dem Brand das Büro der Parteivorsitzenden Najiha Kamaal befunden hat, eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche gefunden – den Kleidungsresten zufolge vermutlich die einer Frau. Da Najiha Kamaal nirgendwo auffindbar ist, muss man davon ausgehen, dass sie bei diesem Unglück – das höchstwahrscheinlich ein Attentat war – ums Leben gekommen ist.«

      Reflexartig drückte Vikram auf die Ton-aus-Taste der Fernbedienung. Totenstille senkte sich über das Zimmer. Sita sah, dass Sameera sich auf die Lippen biss. Sie war kreidebleich.

      »Nicht Najiha«, flüsterte sie. »Nicht auch noch Najiha. Bitte.«

      »Ich glaube es nicht«, sagte Vikram fest. Er trat neben seine Frau und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nicht, ehe ich stichhaltige Beweise habe.«

      »Und normalerweise müsste sich doch ihr Leibwächter ganz in der Nähe aufhalten«, fügte Raja hinzu. »Bisher hat man aber offenbar nur diese eine Leiche gefunden, sonst niemanden. Wenn also Janveer nicht dort war, warum soll es sich bei dieser Toten zwangsläufig um Najiha handeln?«

      »Gebe Allah, dass Sie recht haben, Sharma sahab.« Karim rieb sich mit der Hand über das Gesicht; er sah angespannt und erschöpft aus. »Ich fahre jetzt nach Srinagar; ob ich durchkomme, weiß der Himmel – nach einer solchen Sache sperrt das Militär gerne mal tagelang die ganze Stadt ab. Und nein…« Er hob abwehrend die Hand. »Es reicht, wenn ich fahre. Sollte der Kamaal sahiba tatsächlich etwas zugestoßen sein, was Allah verhüten möge, dann rotten sich die Wölfe zusammen. So etwas geht hier im Tal verflucht schnell. Und dann braucht dieses Haus Augen, die scharf Ausschau halten können, und Hände, die es schützen. Jedenfalls mehr als nur die von Rizwan Padar allein.«

      Er ging mit raschen Schritten hinaus. Gleich darauf sprang draußen der Motor des Vans an und das Geräusch entfernte sich, bis wieder Stille einkehrte. Eine Weile rührte sich niemand, dann stand Sameera auf.

      »Wir müssen das Abendessen für die Kinder machen«, sagte sie leise. »Zobeida, Sita… kommt ihr? Im Moment können wir sowieso nur warten.«

      Sita warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu; er nickte sachte, und sie folgte Zobeida und Sameera hinaus in die Küche. Auf dem Weg dorthin konnte sie Rani hinter der Tür zu Zoonis und Maryams Zimmer fröhlich lachen hören; sie erschrak darüber, wie fremd und unpassend ihr dieser Klang vorkam. Die Vorahnung einer furchtbaren Tragödie schien über dem Dar-as-Salam zu hängen wie eine schwarze Wolke.

      Wenig später saßen die drei Frauen am Küchentisch. Zobeida zerlegte einen Blumenkohl, Sameera schnitt Möhren klein und Sita hackte Kräuter. Eine große Schüssel mit Backteig für Pakoras stand neben der Spüle bereit. Bis auf ein paar kurze Bemerkungen sprach keine der Frauen ein Wort.

      Dann näherte sich draußen ein Auto. In der steinernen Ruhe, die das alte Holzhaus einschloss, war deutlich zu hören, wie der Motor abgestellt wurde. Eine Wagentür wurde geöffnet und schlug wieder zu. Gleich darauf ertönte eine laute, helle Stimme.

       »Didi? Vikram baba? Seid ihr da?«

      Sameera hob den Kopf, und ihr Gesicht verlor auch noch den letzten Rest Farbe.

      »Lieber Gott!«

      Sie ließ das Messer fallen, und eine erst halb in Scheiben geschnittene Möhre rollte über den Tischrand und fiel zu Boden. Dann sprang sie auf und hastete auf den Flur hinaus.

      Sita lief ihr nach, gefolgt von Zobeida. Als sie den Vorraum erreichte, sah sie den Ausschnitt der geöffneten Eingangstür. Er wirkte wie ein scharf gezeichneter Bilderrahmen, der das goldene Licht des winterlichen Spätnachmittags einschloss… und umgeben von diesem Rahmen sah sie eine in Tränen aufgelöste Sameera, die Najiha Kamaal fest in den Armen hielt.

      ***

      »Hier, Raja, der Chai – und dort habe ich ein paar Pakoras beiseitegestellt. Braucht ihr sonst noch was?«

      »Nein, danke, Zobeida. Vikram hat Wasserflaschen und Gläser oben im Wohnzimmer; und wenn wir doch noch etwas benötigen, dann melde ich mich.«

      Raja ergriff Thermoskanne und Pakoraschüssel und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Er hörte noch, wie hinter ihm Zobeida bei Anjali und Firouzé anklopfte und die beiden Mädchen bat, ihr beim Tischdecken zu helfen. Ein Schatten flog über sein Gesicht. Heute würde das Abendessen ohne Sameera ammi, Vikram baba, Sita und ihn stattfinden. Aber – er atmete tief durch – sämtlichen Göttern sei Dank, Najiha war am Leben, und Janveer auch.

      Die Erleichterung, als Najiha nach all den Stunden der Angst und Ungewissheit lebendig im Flur des Dar-as-Salam aufgetaucht war, war grenzenlos gewesen, und Najiha war von einer stürmischen Umarmung in die nächste weitergereicht worden, bis Vikram schließlich energisch dazwischenging und Najiha vorschlug, sich mit Sameera und ihm nach oben zurückzuziehen und dort in Ruhe zu berichten, wie sie dem Anschlag entgangen war. Sie hatten bereits ein paar Stufen zurückgelegt, als Najiha stehenblieb und sich zu Raja umwandte; ihr Gesicht war leichenblass, und ihre haselnussbraunen Augen flackerten.

      »Kommt ihr auch mit?«, bat sie leise. »Du und Sita?«

      Raja hatte Najiha zugenickt und sich ganz kurz im Flüsterton mit Sita abgesprochen. Geh du schon mal mit, meri chandni, hatte er gesagt, ich sag nur noch schnell Rani Bescheid, damit sie sich nachher nicht wundert, wenn wir beim Essen nicht dabei sind. Erst danach war ihm der Gedanke gekommen, dass Najiha möglicherweise mehr als nur seelische Stärkung vertragen konnte; zum Glück hatte Zobeida bereits Chai für das Abendessen zubereitet und mit dem Ausbacken der Pakoras begonnen. Fürs Erste würde das reichen, und gegebenenfalls konnte er immer noch Nachschub holen.

      Er hatte die Tür zu Vikrams und Sameeras Wohnzimmer erreicht und drückte nun mit dem Ellenbogen die Klinke nach unten. Als er die Tür öffnete, hörte er Najihas Stimme; sie klang eintönig, als wäre sie sehr müde.

      »…


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