Todesstrafe - Der zweite Fall für Schmalenbeck und Paulsen. Brigitte Krächan
Anscheinend sprach jemand beruhigend auf Gerda Kömen ein.
Oskar fuhr fort: „Sebastian Eisler ist da, er könnte sie nach Hause fahren.“
„Was macht der Grünschnabel in der Rechtsmedizin?“ knurrte Paule das Mikro der Freisprechanlage an.
„Eisler ist zufällig da. Er wollte auch einen Blick auf das Opfer werfen. Er würde Frau Kömen in die Rechtsmedizin begleiten, aber ich denke, es wäre besser, wenn einer von euch dabei wäre.“
Paule nickte zustimmend.
„Überhaupt stößt Wilhelm Tieck hier auf großes Medieninteresse. Draußen schwirren jede Menge Presseleute herum. Vielleicht sollte ich Eintrittskarten verkaufen und Kaltgetränkte anbieten.“
Oskar klang genervt. Der Rechtsmediziner hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. „Eben konnte ich gerade zwei Knirpse davon abhalten, die Räume der Rechtsmedizin für den YouTube-Channel ihrer Schule abzulichten. Die beiden waren gewitzter als ihre erwachsenen Kollegen. Sind einfach durch die Kinderklinik marschiert und dann von hinten zum rechtsmedizinischen Institut. Sie wollten mich für eine Reportage in der Schülerzeitung interviewen.“
Ulli schmunzelte. Sie konnte sich Oskars Verzweiflung vorstellen. Er war geübt im Umgang mit Toten. Die Lebenden und ganz besonders Kinder strapazierten schnell seine Geduld.
„Sebastian soll Frau Kömen ins Präsidium zu einer weiteren Befragung bringen. Wir werden sie danach nach Hause fahren“, sagte sie, während Paule den Wagen in den Feierabendverkehr einfädelte.
Als Paule und Ulli das Vernehmungszimmer im Präsidium betraten, brach das Gespräch zwischen Eisler und Frau Kömen ab. Sebastian Eisler begrüßte die beiden Kommissare freundlich und machte keine Anstalten aufzustehen. Ulli zögerte. Sollte sie ihm erlauben, bei der Befragung anwesend zu sein?
Noch ehe sie eine Entscheidung getroffen hatte, übernahm Paule das Kommando. Er deutete auf das Mineralwasser auf dem Tisch. „Guten Tag, Frau Kömen. Wie wir sehen, hat unser Kollege Sie bereits bestens versorgt. Aber jetzt sollten wir ihn nicht länger von seiner Arbeit abhalten.“
Paule stellte einen Stuhl zwischen Gerda Kömen und den Kommissar. Sebastian warf Ulli einen fragenden Blick zu. Als Ulli nicht reagierte, stand er auf und verließ den Raum.
Frau Kömen sah dem Kommissar nach. „So ein netter, junger Mann. Und so einfühlsam.“
Sie blickte immer noch zu der Tür, die Eisler hinter sich geschlossen hatte.
„Haben Sie gewusst, dass der Kommissar genauso alt ist wie Karin? Also ich meine, wie Karin heute wäre, wenn Willi sie nicht ermordet hätte. Ich habe ihn gefragt, ob er Karin vielleicht sogar kannte, aber er meinte, das sei sehr unwahrscheinlich, er habe bis Januar noch in Berlin gewohnt und sei vor seinem Umzug nie in Hamburg gewesen. Kinder hat er keine. Und trotzdem hatte ich den Eindruck, er konnte mit mir mitfühlen. Haben Sie Kinder?“
Gerda Kömen blickte Ulli fragend an. Ulli ignorierte die Frage.
„Frau Kömen, können Sie uns erklären, warum Sie heute zur Rechtsmedizin gefahren sind? Das ist für Sie immerhin eine sehr beschwerliche Reise mit dem Bus.“
Gerda Kömen bückte sich und zog ihre Handtasche, die sie neben sich abgestellt hatte, näher zu ihrem Stuhl. Sie zögerte. „Ich hatte nach all den Jahren ganz vergessen, wie er aussah. Heinz hat oft einen kleinen Umweg genommen und ist am Haus vorbeigegangen, wenn er zum Friedhof ging. Ich bin seit Jahren nicht mehr in der Torstraße gewesen. Ich wollte wissen, wie er jetzt ausgesehen hat. Und ich wollte wissen, was sein Mörder mit ihm gemacht hat.“
Frau Kömen bückte sich wieder nach ihrer Tasche. Sie nahm sie hoch, hielt sie auf dem Schoß und schlang die Arme darum, als sei sie ein kleines Kind. „Wissen Sie, damals waren wir auch dort. In dem Institut. Der Arzt hat uns Karin gezeigt. Alle sagten, sie sähe so friedlich aus. Aber eine Mutter sieht, wenn ihr Kind leiden musste. Ich wollte sehen, ob Wilhelm leiden musste.“
Die Frau stellte die Tasche wieder zu Boden und setzte sich aufrecht. Sie blickte Ulli trotzig direkt in die Augen. „Ja, ich wollte in sein Gesicht blicken und darin sehen, dass er leiden musste. Ihr junger Kollege hat das verstanden, obwohl er keine Kinder hat.“
Ulli nickte. „Und ihr Mann? Wollte er Sie nicht begleiten?“
Frau Kömen schüttelte den Kopf. „Heinz meinte, er sei mit der Sache fertig. Er weiß gar nicht, dass ich nach Eppendorf zur Uniklinik gefahren bin. Mein Mann fährt Dienstagnachmittag immer zur Asklepios-Klinik in St. Georg, anschließend geht er zum Friedhof und sitzt dort bei Karin. Er kommt selten vor dem Abendessen nach Hause.“
Paule horchte auf: „Ist Ihr Mann krank?“
Frau Kömen nickte. „Ein Bauchfell-Sarkom. Pastor Werner hat gesagt, der Hass sei daran schuld. Man muss verzeihen können, sonst frisst der Hass einen auf. Aber Heinz konnte nicht verzeihen. Vor drei Monaten sind die Schmerzen so schlimm geworden, dass er endlich zum Arzt ging. Aber da war es schon zu spät. Der Hass hat ihn zerfressen. Sie können nur noch etwas gegen die Schmerzen tun.“
Frau Kömen seufzte. „Aber wenigstens bleiben uns jetzt noch ein paar friedliche Wochen.“
Paule war Ulli wie gewöhnlich in ihr Büro gefolgt. Er stellte die beiden Kaffeetassen auf den Tisch und nahm auf Ullis Schreibtischstuhl Platz. Ulli war es gewohnt, dass sich ihr Kollege immer den bequemsten Stuhl im Raum aussuchte und zog sich den Konferenzstuhl heran.
„Ich sehe schon das Entsetzen in den Augen des Staatsanwaltes, wenn wir ihm die tödliche Erkrankung von Heinz Kömen als hinreichenden Tatverdacht präsentieren“, begann Ulli
„Und der Seidel wird eine Nachrichtensperre verhängen, aus Angst davor, was die Presse daraus macht, wenn sie herausbekommt, dass wir einen Todkranken des Mordes am Mörder seiner Tochter überführen wollen“, ergänzte Paule.
„Am potentiellen Mörder seiner Tochter“, korrigierte Ulli, „außerdem hat Heinz Kömen immer noch das Alibi seiner Frau, die alles daran setzten wird, zu verhindern, dass ihr Mann die letzten Wochen seines Lebens in einer Gefängniszelle verbringen muss. Wenigstens sollten wir eine Abfrage im NWR starten, um herauszufinden, ob auf Heinz Kömen eine Waffe registriert ist. Vielleicht war er einmal Mitglied im Schützenverein, dann müsste er im Nationalen Waffenregister gelistet sein.“
Paule nickte. „Diese Idee ist mir bei der Befragung auch gekommen. Aber als die Frau von der Krankheit erzählt hat, tat sie mir so leid, dass ich nicht mehr nachgefragt habe.“
Ulli nickte zustimmend. Eigentlich war sie meist diejenige, die bei Zeugenbefragungen eher behutsam auftrat. „Du wirst auf deine alten Tage noch sentimental.“
„Altersmilde“, korrigierte Paule.
***
„Auf geht’s, Junge!“ Ulli hatte Rocco bei Frau Geese abgeholt und startete die übliche Feierabendrunde um den See. Nach dem Spaziergang würde sie noch auf einen Tee bei Frau Geese vorbeischauen. Ulli fragte sich, wie lange die alte Frau das Pförtnerhäuschen noch alleine würde bewohnen können. Frau Geese könnte das Haus verkaufen. Der Erlös und die Rente würden für einen Platz in einem guten Altenheim reichen. Aber als Ulli ihr das vorgeschlagen hatte, winkte die Haushälterin resolut ab. „Ein Umzug ins Altenheim ist der erste Schritt ins Grab. Das habe ich schon bei zu vielen gesehen. Die alten Leute langweilen sich dort buchstäblich zu Tode.“
So waren sie schließlich übereingekommen, dass Frau Geese weiterhin im Pförtnerhaus wohnte, und das Hausmeisterehepaar, das die Villa bewohnen und instand halten würde, sich bei Bedarf auch um das Pförtnerhaus und Frau Geese kümmern sollte.
„Aber in den Kräutergarten lasse ich mir nicht hineinreden“, stimmte Frau Geese Ullis Vorschlag schließlich zögerlich zu.
„Macht der Umbau Fortschritte?“ Frau Geese hatte Ulli eine große Tasse Kräutertee in die Hand gedrückt und sich dann neben sie auf die kleine Holzbank an der Rückseite des Häuschens gesetzt. Die alte Frau war von Ullis Umbauplänen nach wie vor nicht begeistert. „Wollen Sie