Todesstrafe - Der zweite Fall für Schmalenbeck und Paulsen. Brigitte Krächan
seinen Nachbarn seit Jahren nichts mehr zu tun. Was Kollegen betrifft, fragen Sie besser den jungen Mann von heute Morgen. Und Feinde von damals? Vielleicht der damalige Freund der Kleinen. Aber der ist jetzt verheiratet und hat Kinder. Er hat es so besser getroffen. Wie gesagt, die Kleine war nicht zum Heiraten. Soll ich Ihnen noch ein Stück Kuchen einpacken?“
„Nein, danke“, Ulli beeilte sich, Paules Antwort zuvorzukommen. Die alte Frau tat ihr leid, außerdem schien sie bisher die Einzige, die das Opfer wirklich gekannt hatte. Sie würden noch weitere Informationen von ihr brauchen. Da war es besser, neutral zu bleiben und sie nicht durch unbedachte Äußerungen zu verärgern. „Die Spurensicherung ist jetzt im Haus Ihres Bruders fertig. Können Sie uns noch einmal dorthin begleiten, um nachzusehen, ob der Täter etwas mitgenommen hat?“
Frau Burger schluckte. Dann nickte sie. „Ja sicher, ich ziehe mich nur noch um.“
„Gut“, Ulli lächelte der Frau aufmunternd zu, „wir warten am Wagen.“
Draußen machte Paule seinem Ärger Luft.
„Deckt einen Mörder, macht die Tote schlecht und stellt sich selbst als Opfer dar“, schimpfte er.
„Na ja“, versuchte Ulli, ihn zu beruhigen, „in gewissem Sinne ist sie ein Opfer. Was damals geschah, hat sie einsam gemacht. Und sie leidet unter dieser Einsamkeit. Sie redet sehr viel. Alle einsamen Menschen tun das, wenn ihnen endlich jemand zuhört. Wir sollten ihr zuhören. Wir müssen einen Mord aufklären. Egal ob ihr Bruder damals schuldig oder unschuldig war: Seit heute Morgen ist Wilhelm Tieck ein Mordopfer.“
Paule schnaubte unwillig und nickte dann widerstrebend: „Aber glaub mir, es gab schon Fälle, die ich dringender aufklären wollte.“ „Andere anscheinend auch“, Ulli hatte gerade einen Nachricht auf ihrem Smartphone erhalten. „Oskar fragt, ob wir die Leichenöffnung auf morgen früh verschieben können. Seine Frau hat schon vor Wochen Karten zum Phantom der Oper heute Abend gekauft. CT und MRT seien schon durch.“
Paule schaute auf die Uhr. „Warum nicht? Der Tote läuft uns nicht davon. Wir fahren mit der Schwester noch einmal zum Tatort und machen dann für heute Schluss. Setzt du mich am Pferdemarkt ab? Zum Feierabendbier? Von dort komme ich bequem mit der U-Bahn nach Hause.“
Ulli seufze resigniert. Es schien niemand ein besonderes Interesse daran zu haben, den Mord aufzuklären. So gleichgültig kannte sie ihre Kollegen sonst nicht. Vielleicht sollte sie noch einmal im Präsidium vorbeischauen und die Akte Karin Kömen am Computer aufrufen. Andererseits war Rocco schon den ganzen Tag alleine, und Walter würde in der Sitzung morgen ohnehin über den Fall berichten.
KAPITEL 3
Montag, 26.08.2013, Hamburger Aktuelle Wilhelm T. tot!
Mutmaßlicher Vergewaltiger und Mörder von Karin K. tot in Eimsbüttel aufgefunden. Polizei geht von Gewaltverbrechen aus.
Hat jemand vollendet, was Richter vor zehn Jahren verpasst haben?
Als Ulli um acht Uhr ihren Citroën im Butenfeld abstellte und kurz danach den Obduktionsaal im Institut für Rechtsmedizin betrat, warteten Paule und Oskar schon auf sie. Oskar bot Ulli Minzöl an.
„Ich kann dir auch eine Maske geben, wenn du möchtest. Unser Freund hier riecht nicht mehr so appetitlich frisch, obwohl er direkt aus der Kühlung kommt.“
Dankbar nahm Ulli das Minzöl und strich sich einen Tropfen unter die Nase. Auch ohne rechtsmedizinisches Gutachten hätte sie mit Sicherheit sagen können, dass das Opfer schon mehr als vierundzwanzig Stunden tot war. Der süßliche Leichengeruch, der von vielen Anfängern als der typische Geruch in der Rechtsmedizin beschrieben wurde, trat erst auf, wenn Bakterien begonnen hatten, den Körper von innen zu zersetzen. In den meisten Fällen passierte die Leichenschau, bevor dieser Zersetzungsprozess begann. In den Räumen der Rechtsmedizin roch es daher meistens nach Desinfektionsmitteln und anderen chemischen Lösungen. Aber dieses Mal wurden diese Gerüche von dem moschusartigen Geruch nach verwesendem Fleisch überlagert. Paule hielt, wie immer bei einer Leichenschau, den einzigen Stuhl im Raum besetzt. Er blätterte in einem dünnen Schnellhefter.
Oskar nickte ihm zu: „Ich war gestern nicht ganz untätig. Toxikologische Befunde, Stellungnahme zu MRT und CT, alles da drin. Ich weiß, dass du die gedruckte Version bevorzugst. Es ist aber auch schon alles im Zentralcomputer.“
Paule reichte den Befund an Ulli weiter: „MRT und CT – ist das nicht ziemlich viel Aufwand für einen gewöhnlichen Mord?“
Oskar nickte. „Hat der Seidel gestern Abend noch angeordnet. Aber es ergibt Sinn, wenn man die beginnende Verwesung beachtet. Wir haben gestern schnell noch ein paar Aufnahmen gemacht, bevor sich der Herr verflüssigt. Der Bluttest war übrigens unauffällig. Keine Toxine. Außer einer geringen Menge Alkohol. Wird wohl schon ein Feierabendbier getrunken haben. Müsste ein bisschen auf seinen Cholesterinwert achten“, Oskar war zum Tisch getreten, „kann ihm aber jetzt auch egal sein.“
Paule grinste. Oskar war für seinen fragwürdigen Humor und die flapsigen Sprüche während der Leichenöffnung bekannt. Ulli hatte sich daran gewöhnt. Eigentlich mochte sie die unprofessionelle Sprache des Rechtsmediziners. Sie brachte etwas Menschliches in den ansonsten routinierten, technisierten Ablauf einer Leichenöffnung.
Oskar zeigte auf das kreisrunde Loch in der Stirn des Opfers: „Ich vermute, das war die Todesursache. Kontaktschuss. Die Stanzmarke deutet auf einen Schalldämpfer hin. Glatter Durchschuss. Kleine, sternförmige Austrittswunde am Hinterkopf. Habe ich gestern schon im Bild festgehalten.“
Er nickte zu dem Ordner in Ullis Hand. „Die Kollegen haben übrigens das Projektil und die Patronenhülse sicherstellen können.“ „Weißt du, wann genau es passiert ist?“ Paule war vom Stuhl aufgestanden und an den Obduktionstisch getreten.
Oskar zuckte mit den Schultern. „Ich bleibe dabei: Angesichts der gelösten Leichenstarre und des Status‘ der Verwesung irgendwann zwischen Donnerstagabend und Freitagabend. Wir haben die Pizza zur entomologischen Untersuchung geschickt. Ihr wisst schon, die Sache mit den Entwicklungsstadien der Fliegenlarven. Es wäre hilfreich, wenn ihr herausfinden könntet, wann die Pizza geliefert wurde. Anscheinend kam der Tote nicht mehr dazu, sie anzuschneiden.“
Paule schnaubte genervt: „Und warum dann der Tanz mit den Fliegenlarven? Wenn wir wissen, wann die Pizza geliefert wurde, sind wir genauso weit. Einfache, solide Ermittlungsarbeit anstatt diesem CSI-Quatsch.“
Oskar grinste breit, er kannte Paules Abneigung gegen alle neuen Ermittlungsmethoden. „Du sagst es. Aber wir können es und deshalb tun wir es. Macht später Eindruck bei der Gerichtsverhandlung. Und jetzt“, Oskar griff zur Knochensäge, „bitte zurücktreten.“
Ulli wusste, was jetzt kam. Sie kannte den Standardsatz des Rechtsmediziners von den anderen Obduktionen.
„Machen wir den Kerl einmal auf.“
Oskar begleitete die beiden Kommissare nach draußen. Er zündete sich eine Zigarette an.
„Eigentlich rauche ich kaum noch. Aber manchmal hilft es.“
Er deutete in Richtung Obduktionssaal. „Ich kann nicht behaupten, dass mir der Tod dieses Kerls da drinnen besonders nahe geht.“ Erstaunt schaute Ulli den Rechtsmediziner an. Es war das erste Mal, dass sich Oskar zu einem negativen Urteil über ein Opfer hinreißen ließ. Er lehnte an der Wand und inhalierte den Zigarettenrauch.
„Da drin lag sie. Ich glaube, sogar im gleichen Raum. Das ist jetzt zehn Jahre her. Auch wenn man bedenkt, dass ich damals vielleicht noch etwas empfindlicher war als heute, war es ein Anblick, den ich nie vergessen werde.“
Der Mediziner warf den Rest der Zigarette auf den Boden und trat ihn aus. „Sie hätte überleben können, wenn das Schwein nicht einfach weggerannt wäre. Hat sie einfach liegen lassen. Die Frau war bewusstlos und ist irgendwann aufgewacht. Sie hat versucht, wegzukriechen. Vielleicht wäre sie an den Verletzungen gestorben, die er ihr zugefügt hatte, vielleicht aber auch nicht. Die Todesursache war aber letztlich Ertrinken. Sie hätte überleben können, wenn sie einfach nur in die andere Richtung gekrochen wäre.“
Oskar