Todesstrafe - Der zweite Fall für Schmalenbeck und Paulsen. Brigitte Krächan
eingestiegen war. Als gesichert anzunehmen war, dass Wilhelm Tiecks Wagen am späten Abend des 22. August nicht vor seinem Haus stand. Die Nachbarn waren sich sicher, dass er nicht zu Hause war. Wilhelm Tieck wurde bereits am Abend des 23. August zu dem Fall befragt. Da er sehr verunsichert wirkte und sich weigerte, irgendwelche Angaben zu seiner Person beziehungsweise einem eventuellen Alibi zu machen, wurde er in U-Haft genommen. Alle Indizien sprachen für ihn als Täter. Später wurden allerdings die Spuren im Wageninnern damit erklärt, dass er das Opfer öfter nach Hause gefahren hatte. Nachdem er mit einem Anwalt gesprochen hatte, gab Wilhelm Tieck seine Zuneigung zu Karin Kömen offen zu. Der Anwalt erklärte bei der Verhandlung, der Tod der jungen Frau habe den Tatverdächtigen sehr mitgenommen. Dies erkläre sein eigenartiges Verhalten bei der ersten Befragung durch die Ermittler. Wo sich Wilhelm Tieck tatsächlich zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat, konnte auch in der Verhandlung nicht mit letzter Gewissheit aufgeklärt werden. Seine Schwester und sein Schwager sagten aus, der Verdächtige habe sie am Abend des 22. August besucht. Man habe zusammen Fernsehen geschaut und sich unterhalten. Es sei schon lange dunkel gewesen, als Wilhelm Tieck ihr Haus verließ. Nachbarn hatten weder Wilhelm Tieck noch dessen grauen Kombi an diesem Abend in der Straße der Burgers gesehen. Wilhelm Tieck gab an, er habe in einer Seitenstraße geparkt. Einen schlüssigen Grund dafür konnte er nicht nennen. Nach dem Besuch bei seiner Schwester sei er direkt nach Hause gefahren. Der Weg vom der Großen Bahnstraße in die Torstraße führt am Ziegelteich vorbei. Der Verdächtige sagte aus, er wisse noch nicht einmal, ob der diesen Weg gefahren sei. Er gab zu, erhebliche Mengen Alkohol getrunken zu haben. Aus diesem Grund sei er unaufmerksam und sehr müde gewesen. Er sei auch gleich zu Bett gegangen. Vor Gericht sagten die Schwester und der Schwager unter Eid aus, sie seien sicher, es wäre weit nach Mitternacht gewesen, als Wilhelm Tieck nach Hause gefahren sei. Man habe sich verplaudert, aber eine genaue Zeit konnten sie nicht angeben. Zu einem Geständnis des Angeklagten kam es nicht. Die Beweise reichten für einen Schuldspruch nicht aus, schließlich wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Für ihn sprach, dass er bisher noch nie durch Gewalt gegen Frauen auffällig geworden war. In dubio pro reo. Lieber einen fälschlich Freigesprochenen laufen lassen, als einen zu Unrecht Verurteilten leiden lassen. Ein weiterer Verdächtiger wurde nie gefunden. Wir waren damals alle überzeugt, dass Wilhelm Tieck der Täter war. Der Fall Karin Kömen ist bis heute nicht aufgeklärt.“
Als Walter seinen Vortrag beendet hatte, herrschte angespannte Stille. Ulli schaute in die Runde. „Mit den heutigen Mitteln der Rechtsmedizin wäre es ein Leichtes, Wilhelm Tieck den Mord nachzuweisen“, meldete sich Paule zu Wort, „man hatte damals DNA, vermutlich vom Täter, am Opfer sichergestellt.“
„Richtig“, Dirk drückte auf eine Taste seines Notebooks und ein Artikel der Hamburger Aktuellen erschien auf der Leinwand.
„‚Frauenmörder seit zehn Jahren auf freiem Fuß!‘ Das war im Wesentlichen auch das Thema des Artikels, der letzten Donnerstag anlässlich des zehnten Jahrestages des Todes von Karin Kömen erschienen ist. Die Hamburger Aktuelle wirft die Frage auf, wieso nicht schon damals eine DNA-Analyse durchgeführt wurde. Der Artikel fordert eine Wiederaufnahme des Verfahrens, gestützt auf die DNA-Spuren.“
Nachdem Ulli den Artikel überflogen hatte, war ihr klar, dass die Öffentlichkeit den Mord an Wilhelm Tieck und ihre Ermittlungen mit großem Interesse verfolgen würde. Jetzt verstand sie auch, warum Dr. Seidel an dieser Fallbesprechung teilnahm. Er mischte sich immer dann in die Ermittlungsarbeit ein, wenn er eine negative Presse befürchtete. Unter allen Umständen den Ruf der Behörde schützen, stand ganz oben auf der Agenda des Polizeipräsidenten, der jetzt aufstand und sichtlich genervt das Wort ergriff: „2003 hatten wir gerade erst begonnen, eine DNA-Analyse-Datei beim Bundeskriminalamt aufzubauen. Es war damals noch nicht üblich, auch DNA-Analysen in die Ermittlung aufzunehmen. Ich kann verstehen, dass solche spektakulären Fälle, bei denen ein Täter angeblich durch eine DNA-Analyse überführt wird, Eindruck machen. Aber die Herren von der Presse sollten sich auch einmal damit beschäftigen, was der Bundesgerichtshof zum Beweiswert von DNA sagt. Selbst wenn die DNA zum mutmaßlichen Täter passt, ist sie nur ein Indiz, das auf den Täter hinweist, kein Beweis, der den Täter sicher überführt. Außerdem sagt das Strafrecht, man darf grundsätzlich nicht zweimal für die gleiche Tat angeklagt werden. Ne bis in idem. Wenn ein Urteil gesprochen ist, soll man einen Fall nicht immer wieder aufrufen dürfen. Jemand, der freigesprochen wurde, hat das Recht, in Frieden weiter zu leben. Zumal die meisten Freisprüche sicherlich zu Recht erfolgen. “
„Fiat justitia et pereat mundus“, Sebastian hatte den Satz anscheinend gedankenverloren in die Runde geworfen und erntete von Dr. Seidel einen wohlwollenden Blick.
„Genau: Gerechtigkeit, die man auf Biegen und Brechen durchsetzen will, verkehrt sich ins Gegenteil.“
„Streber“, knurrte Paule neben Ulli.
„Außerdem“, fuhr Dr. Seidel fort, „können wir doch jetzt nicht alle Freisprüche wieder neu aufrollen und untersuchen. Wir haben genug aktuelle Fälle, die aufzuklären sind.“
„Aber ich könnte wetten, es ist Wilhelms Tiecks DNA, die wir damals beim Opfer gefunden haben“, meldete sich Walter zu Wort.
„Selbst wenn dem so wäre“, wandte sich Ulli an Walter, „auch ein DNA-Beweis wäre kein eindeutiger Beweis für die Schuld eines Täters. Und in der Praxis besteht wenig Chance, dass man einen irrtümlich freigesprochenen Täter durch Konfrontation mit dem DNA-Beweis zu einem späten Geständnis bewegen kann. Aber ein Geständnis des Täters wäre der einzige Weg, einen falschen Freispruch zu korrigieren.“
„Na ja“, warf Paule ein, „in gewisser Weise wurde der Freispruch von Wilhelm Tieck ja auf anderem Wege korrigiert.“
Ulli schaute in die Runde. Schweigen. Niemand schien der Aussage von Paule widersprechen zu wollen. Selbst Sebastian hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor dem Körper verschränkt und verfolgte die Diskussion mit gelassenem Interesse. Dass Sebastian sich zurückhielt, konnte Ulli verstehen. Er war noch neu in der Familie des KK3 und schlau genug, sich nicht zu weit vorzuwagen. Aber das Verhalten der übrigen Kollegen empörte Ulli.
„Gibt es hier irgendjemanden im Raum, der sich noch daran erinnert, dass Wilhelm Tieck gestern Opfer eines Gewaltverbrechens wurde?“ Ihre Stimme klang wütender, als sie es beabsichtigt hatte. Als Leiterin des Teams sollte sie sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Aber dieses stille Einverständnis mit den mutmaßlichen Motiven des Täters, die Tatsache, dass hier niemand der offensichtlichen Billigung von Selbstjustiz entgegentrat, empörte Ulli.
„Jeder hier weiß, dass wir in einem Mordfall ermitteln“, lenkte Paule ein, „und bisher wissen wir nicht einmal, ob Wilhelm Tiecks Tod mit dem Mord an Karin Kömen vor zehn Jahren im Zusammenhang steht. Jedem fällt es schwer, bei einem Mord wie dem an der kleinen Kömen ruhig und objektiv zu bleiben, besonders, da wir alle das Gefühl hatten, dass wir den offensichtlichen Täter damals mussten laufen lassen. Aber du hast Recht: Auch die Tötung eines Mörders ist Mord.“
Ulli nickte Paule zu. Sie hatte sich wieder gefasst. „Dann sollten wir jetzt weitermachen. Dirk, du behältst die Presse und die sozialen Medien im Auge, ob da jemand auffällige Bemerkungen zu dem Artikel macht. Schau auch, ob es irgendwelche Opfervereine gibt, die sich besonders für den Fall interessieren. Hat das Handy von Wilhelm Tieck etwas ergeben?“
„Es sieht nicht so aus, als hätte das Opfer irgendwelche Geheimnisse. Noch nicht einmal einen Sicherheitscode hatte er auf dem Smartphone, auch keine App zu irgendwelchen sozialen Netzwerken. Tieck war wohl HSV-Fan. Hat deren Newsletter abonniert. Es gibt keine privaten Mails. Adressverzeichnis: Fehlanzeige. Er hat keinen einzigen Kontakt gespeichert. Emma wird nachher die Nummern abtelefonieren, um herauszufinden, mit wem er in letzter Zeit Kontakt hatte.“
„Danke, Dirk. Was wissen wir über die Mordwaffe?“, fragte Ulli jetzt Jana Nielsen von der Spurensicherung.
„Ein einziger Schuss. Aus einer Pistole mit Schalldämpfer. Projektil und Hülse wurden von uns sichergestellt. Keine Waffe am Tatort. Unsere Ballistik sagt, die Schussspur deute auf eine HK P10 hin. Der Schalldämpfer war mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls von Heckler & Koch. Diese Waffe ist auf dem Schwarzmarkt eine der meistgehandelten Pistolen. Da kommt eigentlich