Whiskey-Ballett. Peter Faszbender
6
»Oh, Gott, was ist das denn?«
Auf einem verschlissenen Besucherstuhl vor Sarahs Büro breitet sich ein aufgeplustertes buntes Etwas aus. Eine stämmige Frau, wohl weit in den Fünfzigern, eingehüllt in eine Art afrikanische Tracht, ganz ortsunüblich übermäßig farbenprächtig und in krassem Kontrast zu der rosig glänzenden Haut, den groben grauen Wollsocken und den schwarzen Gummisandalen.
»Die Zweigstelle der Kleiderkammer vom Roten Kreuz ist im Erdgeschoss, der Zugang ist von der Straße aus.« Sarah stellt Kaffee und Brötchen auf einem freien Stuhl ab, holt den Schlüssel aus der Tasche und schließt ihr Büro auf. »Es hängt ein großes Schild davor, kaum zu übersehen.«
»Wie bitte?«, fragt die Frau sichtlich irritiert.
Sarah stutzt. »Können Sie mich verstehen?«, fragt sie sehr langsam und laut.
»Was soll denn diese komische Fragerei? Sind Sie Frau Molony?«, erwidert die farbenfrohe Dame.
»Ja, wie kann ich helfen? Soll ich jemanden für Sie holen oder anrufen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich bin Richenza Ottilia Schmitzlein-Ithana vom Zoll, wir haben seit nunmehr zwei Minuten einen Termin.« Sie tippt zur Bekräftigung auf das Zifferblatt ihrer Uhr mit Holzgehäuse und Korkarmband.
»Seit zwei Minuten«, sagt Sarah. »Wie doch die Zeit verfliegt. Dann sputen wir uns, damit wir alles zügig erledigt bekommen. Wir wollen Sie ja nicht allzu lange aufhalten hier, und vielleicht möchten Sie ja doch noch in die Kleiderkammer, die sollen zum Teil ganz schöne Sachen haben. Jedenfalls Schöneres als – na ja, egal.«
Schmitzlein-Ithana folgt Sarah unaufgefordert in das Büro. Und bleibt zu dessen eingehender Musterung erst mal stehen. Würdigt die Wände mit Postern vom irischen Touristikverband und der Flagge der Grünen Insel sowie den Aktenbock, auf dem sich eine Art Altar erhebt, eine mittelgroße Bischofsfigur mit einem Kleeblatt in der Hand.
»Sie pflegen hier in der Behörde offenkundig einen eher legeren Umgang mit der Büroraumgestaltung.«
Sarah zuckt mit den Achseln und setzt sich. »Es hat sich bisher keiner beschwert, zumindest nicht über das Interieur.« Sie reißt die Tüte mit den Zwiebelmettbrötchen auf. Die Luft im Büro nimmt schlagartig den Geruch der Verpflegung an.
»Sie sind Fleischesser!«, stellt die immer noch stehende Schmitzlein-Ithana mit angewidertem Gesichtsausdruck fest. »Im Gegensatz zu Ihnen ernähre ich mich streng vegan.«
»Dann brauche ich Ihnen vermutlich kein Brötchen anzubieten.«
»Um Himmels willen, nein.«
»Letztlich sind das Mett und die Butter auch nichts anderes als veredeltes Grünzeug, und die Zwiebeln sind voll vegan!« Aus ihrem Schreibtisch holt Sarah winzige Streuer mit Pfeffer und Salz, würzt die Brötchenhälften mit Passion nach, um dann mit der gebotenen Ruhe der Genießerin hineinzubeißen. Das krosse Bäckerbrötchen zerbirst krachend, einige Krümel schneien auf den Tisch. Ein wohliges »Hmmm« ist dabei zu vernehmen. »Was gibt es Schöneres, um in den jungen Tag zu starten?«
Schmitzlein-Ithana schaut zunächst sprachlos und starr der Verspeisung zu.
»Frau Molony«, meint sie dann, »ich sehe keinerlei Alternative, es lässt sich unmöglich umgehen, ein paar Regeln aufzustellen, da wir gezwungen sind, die nächste Zeit in diesem Raum als Team zusammenzuarbeiten. Das ist ja keinem mitfühlenden Menschen zuzumuten, hier mit anzusehen, wie jemand rohes Fleisch hinunterschlingt.« Schmitzlein-Ithana schüttelt angewidert den Kopf. »Wie ein wildes Tier.«
Sarah legt konsterniert den Rest des Brötchens ab. »Wie, wildes Tier? Und von welchem Team faseln Sie da?«, fragt sie und springt auf. »Ich weiß nichts von einem Team, und hier in meinem Büro schon mal gar nicht.«
Schmitzlein-Ithana stemmt die Fäuste in die Seiten und steht breitbeinig im Raum. »Das wurde im Vorfeld alles mit Ihrer Dienststelle abgestimmt. Mein Schreibtisch, die Akten etcetera sind schon auf dem Weg hierher. Zum Glück ist ja in diesem Zimmer genügend Platz, zumindest wenn dieser schäbige Besuchertisch erst mal raus ist.«
»Das werden wir noch sehen!« Sarah hüpft mit einer eleganten Drehung hoch und kommt auf dem Tisch zum Sitzen. Dort hockt sie wie eine wehrhafte und wachsame Glucke auf ihrem Nest. Aus Schmitzlein-Ithanas Handtasche erklingt eine Bachkantate: »Nimm was dein ist, und gehe hin.« Sie nestelt an ihrer Tasche und kramt das Smartphone heraus.
»Hallo. Ach, Sie sind schon da, wunderbar, das ging ja sehr zügig. Ich springe gleich runter und hole Sie ab.«
Sarah eilt zum Fenster, öffnet es und deutet hinaus.
»Bitte, nur zu. Der schnellste Weg nach unten.«
»Danke für das Angebot, aber ich nehme doch lieber die Treppe. Meine Sachen sind da. Ich gehe dann mal schnell die Möbelpacker in Empfang nehmen.«
Mit watschelnden Schritten bugsiert sie ihren wohlbeleibten Körper aus dem Büro. Sarah verlässt ebenfalls den Raum, schließt die Tür sorgfältig ab und stürmt über den Gang.
Kapitel 7
Ohne anzuklopfen stößt sie Seidels Bürotür auf, die krachend an der Wand landet.
»Vor meinem Büro ist ein bunter, lebendiger Kleidersack aufgetaucht, sieht aus wie Stiefmama Afrika. Sie ist dabei, in mein Büro einzuziehen, und faselt davon, dass wir ab jetzt ein Team sind. Was für ein kranker Film läuft hier, Chef?« Sarah unterbricht ihr lautstarkes Stakkato und dreht sich kurz um. »Oder ist das ein schlechter Scherz von den Kollegen?«
Seidel schaut sie ungerührt an. »Sarah, Ihr Auftritt hier ist nicht die richtige Art, bei einem Vorgesetzten vorstellig zu werden. Sie machen es einem echt nicht leicht, Ihre zweifellos vorhandenen Fähigkeiten zu fördern und Sie mit wirklich interessanten Fällen zu betrauen. Soll ich Sie in die Asservatenkammer versetzen lassen und vergessen, dass es Sie gibt?«
Sarah verschränkt wortlos die Arme vor der Brust und starrt Seidel erwartungsvoll an.
»Wie dem auch sei, Sie werden mit der Kollegin vom Zoll bei dem Fall Brenner zusammenarbeiten. Weiterhin ist vereinbart, dass Ihr Büro als Teamstandort dient. Mir liegen noch nicht alle Informationen vor, aber das ist eine Entscheidung von ziemlich weit oben. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht ändern. Es gibt da nichts zu diskutieren. Wenn Bedarf an einer Beschwerde besteht, bitte gleich an den Polizeipräsidenten wenden.«
»Aber sie stellt jetzt schon Büroregeln für uns auf – und wer weiß, was noch alles kommt.«
»Das ist ja entsetzlich, Regeln für Sarah Molony, wie konnte es nur so weit kommen! Auch wenn es Sie schockieren mag, es ist normal, dass man sich an einige Regeln hält. Selbst wenn Sie mit Ihren Kumpels durch die Kneipen ziehen, wird es gewisse Gepflogenheiten geben und die Erwartung, sie anzuwenden beziehungsweise einzuhalten. Wichtig ist hier der Dienst, Ihre Pflicht, nicht irgendein infantiles Geplänkel. Sie schließen jetzt respektvoll meine Bürotür von außen und beginnen Ihre Zusammenarbeit mit der Kollegin vom Zoll. Und damit wir uns nicht falsch verstehen, ich meine damit eine professionelle und kooperative Zusammenarbeit. Geben Sie der deutschen Hälfte Ihrer Gene mal etwas Raum zur Entfaltung.«
»Aber Chef …«
»Raus, Molony!«
Sarah wirft die Tür mit einem lauten Knall zu.
Seidel massiert sich mit beiden Händen die Kopfhaut unter dem grau melierten welligen Haarschopf. »Zum Glück habe ich von dieser Sorte nur eine hier.«
Er greift sich sein 1: 18-Modell eines nocturnoblauen Opel Admiral A, befreit es mit einem Minisauger vom Staub und poliert mit einem Mikrofasertuch nach. Sein Gesicht entspannt sich dabei und formt ein Lächeln.
Kapitel 8
Auf der Glasfläche des kleinen Bistrotisches im Café erzeugt der Vibrationsalarm des Smartphones ein schepperndes Geräusch. Der Name Sergej leuchtet auf dem Display. Er schaut gebannt einige Sekunden auf das brummende und blinkende Gerät.