Der Winterkönig. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Jörg Olbrich
»Wer denn sonst? Siehst du die Rauchwolken am Hügel? Dort steht ein Jesuitenkloster. Sicher hat es hier einen Angriff gegeben. Der Ort und das Gasthaus waren einfach nur im Weg.«
Philipp ging zurück zu Magdalena und legte ihr behutsam den Arm auf die Schulter. »Wir können nicht hierbleiben«, sagte er leise.
»Wohin soll ich denn sonst? Ich lebe hier. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich den Gasthof meiner Eltern nicht verlassen werde?«
»Es gibt keinen Gasthof mehr. Wir müssen von hier weg. Wer auch immer hinter diesem hinterhältigen Anschlag steckt, er könnte wieder zurückkehren. Hier bist du nicht sicher. Komm mit nach Prag. Hier kannst du nichts mehr tun.«
»Das würde dem feinen Herrn so passen«, schrie Magdalena und schlug Philipps Hand weg. »Dir scheint der Tod meiner Eltern ja gerade recht zu kommen.«
Philipp sah Magdalena schockiert an. Wie konnte sie so etwas sagen? »Es tut mir schrecklich leid, was hier geschehen ist«, entgegnete er leise. »Das musst du mir glauben.«
»Warum? Immerhin ist alles deine Schuld. Wären wir einen Tag früher aus Wien abgereist, hätten meine Eltern noch gelebt. Ach, was sage ich. Ich hätte erst gar nicht mit dir kommen sollen.«
Philipp erschrak bis ins Mark, als er Magdalenas wütenden Blick sah. Er verstand den Schmerz, den die junge Frau in diesen Minuten durchlitt, immerhin hatte er selbst seine Eltern bei einem Brand verloren, als er gerade einmal so alt war, dass er laufen konnte. »Ich weiß, wie furchtbar der Tod deiner Eltern für dich ist. Du hättest ihn aber nicht verhindern können. Wärst du hier gewesen, als man das Gasthaus angegriffen hat, würdest du jetzt selbst nicht mehr leben. Und das weißt du auch.«
»Geh endlich weg!«, schrie Magdalena. »Ich will dich nie wiedersehen.«
Philipp wich ein Stück zurück, als ihn der unbändige Zorn in Magdalenas Augen traf. Er ahnte, dass sie nicht ernst meinte, was sie sagte. Dennoch war es ein großer Schock, solche Worte aus ihrem Mund zu hören. Langsam ging er zurück zur Kutsche, wo Johann ihn bereits erwartete.
»Wird die junge Dame uns nicht begleiten?«
»Das weiß ich nicht. Lassen wir ihr einfach einen Moment Zeit. Sie hat gerade ihre Eltern verloren.«
Philipp setzte sich in die Kutsche, lehnte sich zurück und schlug die Hände über seinem Gesicht zusammen. Die Ereignisse der letzten Tage waren zu viel für den jungen Sekretär. In seinem bisherigen Leben gehörte es zu den spannenden Geschehnissen, wenn sich zwei Adelige über Ländereien stritten und dabei die Statthalter um eine Entscheidung gebeten hatten.
Wenige Augenblicke später riss ihn ein Donnerschlag aus seinen Gedanken. Johann hatte recht behalten. Der Regen ließ nicht lange auf sich warten und ergoss sich in Strömen über die Kutsche und die Überreste des Gasthauses. Johann kam zu Philipp in die Kabine geflüchtet und sah seinen Herrn fragend an.
»Wir warten noch«, erklärte Philipp. »Der Regen wird Magdalena zwingen, zu uns in die Kutsche zu kommen.«
Tatsächlich öffnete sich wenige Augenblicke später die Tür zum Innenraum, und Magdalena stieg ein. Sie war völlig durchnässt. Die Haare klebten an ihrem Kopf, und in ihrem Gesicht schimmerten die Wassertropfen. Philipp wusste, dass diese nicht nur vom Regen kamen.
»Ich habe es nicht so gemeint«, sagte Magdalena nach einer Weile. »Es tut mir leid.«
»Das weiß ich«, antwortete Philipp und legte seiner Begleiterin eine Decke über die Schultern. Gerne hätte er sie jetzt einfach tröstend in den Arm genommen, wagte aber nicht Magdalena anzurühren.
»Wenn es aufhört zu regnen, begraben wir Vater und Mutter.«
»Wir müssen weiter«, entgegnete Johann, als der Regen langsam schwächer wurde. »Wenn das Unwetter vorbei ist, werden Leute kommen. Wir können nicht wissen, ob sie auf unserer Seite stehen.«
»Wir können sie doch nicht einfach so da liegen lassen!«, schrie Magdalena den Kutscher an.
»Wir haben keine andere Wahl. Wir können uns nicht gegen einen Angriff wehren. Im Moment ist es einfach zu gefährlich. Wir sind schon viel zu lange hier. Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen.«
»Er hat recht«, sagte Philipp und Magdalena nickte stumm. Während der Kutscher ausstieg, um nachzusehen, ob mit den Pferden alles in Ordnung war, strich Philipp Magdalena sanft über die Wange. »Begleite mich nach Prag. Ich werde für dich sorgen und schwöre dir, dass ich dich niemals zu irgendetwas drängen werde.«
»Ich komme mit«, antwortete Magdalena und sah Philipp tief in die Augen. »Das hätte ich auch getan, wenn meine Eltern nicht ermordet worden wären.«
***
Sie erreichten Prag am Abend des nächsten Tages, kurz vor Einbruch der Dämmerung. Philipp war sehr gespannt darauf, was ihn in der Stadt erwartet. Sicher hatte sich vieles verändert, seit er sie vor etwas mehr als drei Wochen verlassen hatte. Bisher hatte er vorgehabt, direkt nach seiner Ankunft die Prager Burg zu besuchen. Eine innere Stimme riet ihm jetzt allerdings davon ab.
Zunächst wollte er versuchen zu erfahren, was aus Slavata und Martinitz geworden war. Dazu war es am besten, zunächst die Statthalter von Sternberg oder von Lobkowitz aufzusuchen. Die Herren waren beim Aufstand der Protestanten verschont worden und würden sicher noch in der Stadt sein.
»Wohin soll ich Euch fahren?«, wollte Johann wissen, nachdem sie die Tore der Stadt passiert hatten.
»Zum Anwesen der Polyxena von Lobkowitz«, antwortete Philipp. Er kannte die Gräfin als strenge Katholikin, die bedingungslos auf der Seite der Habsburger stand. Dort würden Magdalena und er sicher sein. Er war überrascht, wie ruhig es in der Stadt zuging. Die Tore waren normal bewacht und die Soldaten machten sich nicht einmal die Mühe, die Kutsche genauer zu durchsuchen. Nichts deutete mehr auf die Ereignisse hin, wegen der Philipp die Stadt verlassen hatte.
»Gleich sind wir am Ziel«, sagte Philipp zu Magdalena. Die junge Frau tat ihm unendlich leid. Nachdem sie vom verbrannten Gasthof ihrer Eltern aufgebrochen waren, hatte sie kein Wort gesprochen, sondern die ganze Zeit über nur stumm ins Leere geschaut. Philipp hatte sie in Ruhe gelassen und ebenfalls geschwiegen. Er hoffte, dass es seiner Begleiterin schnell gelingen würde, sich in der Stadt zurechtzufinden. Bisher hatten sie nicht darüber gesprochen, wo Magdalena wohnen wollte. Philipp hatte die kleine Kammer im Haus eines Schneiderehepaars stets ausgereicht. Er brauchte nicht viel und hatte sein Leben seiner Arbeit verschrieben. Für zwei Personen würde der Platz jedoch nicht ausreichen. Außerdem würden die Besitzer des Hauses nicht dulden, dass er die Kammer gemeinsam mit einer Frau bewohnte, ohne dass die beiden verheiratet waren. Jetzt bedauerte er es, dass er sich nicht früher um eine größere Bleibe gekümmert hatte.
Als sie das Anwesen von Polyxena von Lobkowitz erreichten, wurden sie dort von deren Gemahl und Ladislaus von Sternberg begrüßt, die im Freien standen und sich unterhielten.
»Es freut mich sehr, dich bei voller Gesundheit zu sehen«, sagte Diepold von Lobkowitz und schlug Philipp freundschaftlich auf die Schulter. »Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?«
»Ich war in Wien und habe dem Kaiser von der Rebellion in unserer Stadt berichtet.«
»Was sagt Matthias zu den Vorfällen?«, wollte von Sternberg wissen.
»Er ist an einer friedlichen Lösung interessiert.«
»Das ist gut. Gilt das auch für König Ferdinand?«
»Nein«, antwortete Philipp. »Er hat versucht den Kaiser zu überzeugen, gegen die Protestanten vorzugehen. Er will den Krieg. Wie stehen die Aufständischen in der Stadt dazu? Wollen sie sich wirklich auf einen langwierigen Streit mit ihrem König einlassen?«
»Lasst uns das drinnen besprechen«, warf Diepold von Lobkowitz ein. »Wir sollten nicht riskieren, dass jemand unsere Worte mithört.«
Eine halbe Stunde später saß Philipp mit den beiden Statthaltern und Polyxena zusammen am Tisch.