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– vor allem Delphi – verdrängt und zur Bedeutungslosigkeit herabgemindert, stellt das Überbleibsel eines ureuropäischen Eichenkultes dar, der zweifellos auf die unbekannte Religion der vorindogermanischen Bevölkerung Europas zurückgeht. Herodot nimmt daher ganz richtig an, dass Dodona einst den Pelasgern, den ursprünglichen Bewohnern Griechenlands, als Kultstätte gedient habe:
„Früher opferten die Pelasger den Göttern und beteten zu ihnen, wie ich in Dodona gehört habe, ohne sie bei Namen zu nennen; denn ihre Namen kannten sie noch gar nicht. Erst viel später lernten sie die aus Ägypten stammenden Namen der verschiedenen Götter kennen, und noch weit später den des Dionysos. Nachher befragten sie der Götternamen wegen das Orakel in Dodona, angeblich das älteste und damals das einzige Orakel in Griechenland. Ihre Frage aber, ob sie die aus der Fremde stammenden Namen der Götter annehmen sollten, bejahte das Orakel, und seitdem rufen sie bei ihren Opfern die Götter mit Namen an. Später haben das dann auch die Griechen von den Pelasgern angenommen.“42
Auch in Olympia gab es ein Zeus-Orakel; auf Kreta nahmen Höhlenkulte Bezug auf seine Geburts- und Kindheitsgeschichte. Verehrt wurde Zeus als Allgott, als denkendes Feuer, das alles durchdringt, als Vater der Götter und Menschen, als Gott des Wetters, als Schicksalsgott. Seine Epiphanie aber war stets der Blitz. Er gehört ebenso zu seinen Charakteristika wie der Adler und die Eiche. So dichtet denn auch Kleanthes in seinem berühmten Zeus-Hymnus:
Dir gehorcht das Weltgebäude,
kreisend um den Erdenball.
Willig wandelt’s in den Bahnen,
die Du weisest mit der Waffe
deiner Herrscherhand, dem spitzen,
leuchtenden, lodernden, nimmer
erlöschenden ewig lebendigen Blitz.
Und das All gehorcht erschaudernd,
wenn des Blitzes Kraft es trifft.43
Esoterisch steht der Blitz des Zeus für die göttliche Feuerkraft, für den Funken göttlicher Elektrizität, der als Lebensfluidum das All durchdringt. Dieser Blitz kann sowohl zerstörend als auch aufbauend wirken; er ist jene Urkraft der Schöpfung, die Helena P. Blavatsky einstmals mit dem Begriff „Fohat“ umschrieb. In ihrem Hauptwerk Die Geheimlehre (3 Bde., 1888) beschreibt sie Fohat als „das jedes Atom zum Leben elektrisierende beseelende Prinzip“44 und sagt über ihn: „Er geht wie ein Blitz durch die feurigen Wolken“45. Dem Mythos zufolge hat Zeus den Blitz von den Kyklopen erhalten, die er mit den Hekatoncheiren (hundertarmige Riesen) als Bundesgenossen im Kampf gegen die Titanen gewann. Auch ließ er den Kyklopen, um sie zu stärken und sie mit göttlicher Kraft zu erfüllen, in reichem Maße Ambrosia zukommen, den Nektar der Unsterblichkeit (in der indischen Mythologie: Amrita).
Was manchmal anstößig wirkt, sind die zahlreichen Liebesaffären des Zeus, aus denen unzählige Kinder hervorgehen, nicht nur Götter, sondern auch Nymphen, Halbgötter und Sterbliche. Dabei konnte sich Zeus beim Akt der Verführung zuweilen in ein Tier verwandeln, vielleicht ein schamanisches Erbe der griechischen Religion. Beispiele gibt es hierfür genug: So verwandelte er sich in einen Schwan, um Leda zu gewinnen, mit der er die Dioskuren Kastor und Pollux zeugte. In einen Stier verwandelt, entführte er die schöne Europa von der Insel Kreta, um mit ihr Minos, Sarpedon und Rhadamanthys zu zeugen. In Gestalt einer Schlange näherte er sich der Persephone, um mit ihr Zagreus zu zeugen. Bekannt ist auch, dass er mit Leto das göttliche Geschwisterpaar Apollon und Artemis zeugte, mit der Nymphe Maia den Götterboten Hermes. Mit Semele, einer sterblichen Frau, zeugte er Dionysos, und Pallas Athene gilt als Kind des Zeus und der Metis. Dass Zeus sich auch mit sterblichen Frauen einlässt, hängt wohl damit zusammen, dass viele Adelsfamilien großen Wert darauf legten, ihre Abstammung direkt auf Zeus zurückzuführen. Und doch wirkt Zeus in der Rolle des ewigen Casanova lächerlich und unangemessen; es passt nicht so recht in das Bild eines majestätischen Göttervaters. Der Philosoph Xenophanes (570-475 v. Chr.), den man zu den Vorsokratikern zählt, beklagt sich:
Alles hingen den Göttern sie an, Hesiod und Homer, was bei den Menschen als Schande gilt und Tadel hervorruft: Stehlen, Untreue gegen Gatten, einander Betrügen. Aber die Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren, und sie hätten Gestalt und Tracht und Sprache wie sie.46
Hier hat eine weitgehende Entmythologisierung der griechischen Götterwelt stattgefunden. Doch wurde Zeus weiterhin, all seiner mythischen Attribute entkleidet, mit dem höchsten Weltprinzip gleichgesetzt. So spielt er noch in der späteren griechischen Philosophie eine bedeutende Rolle. Die Orphiker sahen ihn als den Weltgrund an, der Platoniker Xenokrates identifizierte ihn mit dem kosmischen Nous (Weltvernunft), in der Philosophie der Stoa wurde Zeus als die Urkraft oder kosmische Vernunft aufgefasst. In einem orphischen Fragment heißt es:
Zeus wurde als erster geboren,
Zeus vom leuchtenden Blitz ist der letzte;
Zeus ist der Kopf, Zeus ist die Mitte;
Durch Zeus ist alles vollendet;
Zeus ist der Grund der Erde
und des Sternenhimmels;
Zeus wurde männlich geboren,
der unsterbliche Zeus war ein junges Mädchen;
Zeus ist der Hauch aller Dinge,
Zeus ist der Eifer des unermüdlichen Feuers.47
Hera
Hera besing ich, die Tochter der Rheia, auf goldenem Throne, sie, die Königin, ja unsterblich in ragender Hoheit, Zeus‘ Gemahlin und Schwester, des grollend donnernden Gottes, herrlich ist sie, die weit im Olympos die Seligen alle scheu verehren zugleich mit dem blitzerfreuten Kronion.
Homerischer Hymnus48
Hinter der Gattin des Donnergottes Zeus verbirgt sich eine in Wahrheit sehr alte Gottheit: Hera war ursprünglich wohl die Schutz- und Palastgöttin des mykenischen Heerkönigs von Argos; ihr Name darf als die weibliche Ergänzung zu Heros, Herr, also als „Herrin“ gedeutet werden. Sie war die Schwester und Gattin des Zeus; die Vorstellung der Geschwisterehe mag auf Ägypten zurückgehen, wo diese als besonders vornehm und Kennzeichen des Pharao galt. Auch Isis und Osiris waren Geschwister. Der Einfluss Ägyptens auf die Kulturentwicklung Griechenlands war seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. unbestritten groß, und es ist gut möglich, dass auch in Hesiods Theogonie ägyptische Vorstellungen eingeflossen sind. Hera ist – als Archetyp – die Ehefrau, die ewige Gattin, allerdings auch allzu oft die betrogene Gattin, aufgrund der zahlreichen Liebschaften und Seitensprünge des Zeus. Sie verfolgt die Affären des Zeus mit krankhafter Eifersucht und spielt im Olymp eine eher lächerliche und bedauernswerte Rolle. Den Geliebten des Zeus stellt sie nach, so etwa der Io, Semele, Kallisto, Leto; seinen unehelichen Kindern trachtet sie nach dem Leben, vor allem dem Herakles, Dionysos, Epaphos. Die ehelichen Kinder, die sie mit Zeus hatte, sind Ares, Hephaistos und Hebe, auch Eileithya gilt als ihre Tochter, wird zuweilen auch als einen ihrer Nebenaspekte betrachtet. Alles in allem ist Hera die Ehe- und Geburtsgöttin: die Opfer bei der Eheschließung wurden ihr dargebracht, die meisten Ehebräuche zu ihr in Beziehung gesetzt. Als Hüterin der Ehe verkörpert Hera die Macht des Weiblichen überhaupt; allerdings gerät sie in einer patriarchalischen Gesellschaft wie dem antiken Griechenland eher ins Hintertreffen. Dies war indes nicht immer so:
So wird Hera in Stymphalos / Arkadien je nach dem Stand ihrer Verehrerinnen als Mädchen, Frau oder Witwe angerufen: ein Hinweis auf die Dreifaltige Große Muttergöttin, die in prähistorischen Gesellschaften sicherlich große Macht besaß. Ihre Vermählung mit Zeus wurde in manchen Kulten, zum Beispiel in Knossos oder auf Samos, als „Heilige Hochzeit“ begangen. Dies weist darauf hin, dass wir es hier mit einer uralten Fruchtbarkeitsgöttin zu tun haben, die erst in einer viel späteren Zeit als die ewig betrogene Gattin zur Karikatur gemacht wurde.
Von Homer haben wir die Beschreibung einer Heiligen Hochzeit von Zeus und Hera, hoch auf den Gipfeln des Ida-Gebirges: