Götter und Göttinnen. Manfred Ehmer
Auges gelegen, in ihren Werken aber lag Stärke, Gewalt und Erfindung.
Aber noch andere waren von Himmel und Erde entsprossen: drei ganz riesige Söhne, gewaltig, unnennbaren Namens: Kottos, Briareos auch und Gyges, Kinder voll Hochmut.
Hundert Arme streckten aus ihren Schultern sich vorwärts, klotzig und ungefügig und fünfzig Köpfe entsprossen Jedem aus seinen Schultern auf starken gedrungenen Gliedern.25
Titanen, Kyklopen und Hekatoncheiren, dies also sind die schrecklichen Kinder der Gaia! Uranos aber, der Beherrscher des Ätherraumes, hasste seine eigenen Kinder und stieß sie zurück in den Schoß der Erde, in den Tartaros. Und dann wird berichtet, wie der mächtigste der Titanen, der listenreiche Kronos, sich wider den Vater erhebt und ihn mit Hilfe einer eisernen Sichel entmannt; und aus der Nachkommenschaft des Kronos wird ein neues Göttergeschlecht geboren, das der olympischen Götter, dessen Hauptstammvater Zeus ist. Gaia bleibt jedoch die Ur- und Allmutter; und es gibt einen dem Homer zugeschriebenen Hymnus An die Allmutter Erde, der als Zeugnis einer Mutter-Erde-Religion im gesamten archaischen Griechenland gelten kann:
Erde, du aller Mutter, du festgegründete, singen will ich von dir, uralte Nährerin der Geschöpfe, die du alles, was im Meer und auf heiligem Boden, was in den Lüften lebt, ernährst mit quellendem Segen; du nur lässt sie gedeihen so reich an Kindern und Früchten.
Heilige Göttin, es steht bei dir, den sterblichen Menschen Leben zu geben, zu nehmen.
O selig, wem du in Güte segnend gewogen, denn alles erblüht ihm in üppiger Fülle; schwellende Saat bedeckt ihm alle Felder und reiche Herden beweiden sein Land, sein Haus birgt Schätze in Menge.
Und so herrschen sie denn in der Stadt voll lieblicher Frauen mild nach rechtem Gesetz, begleitet von Segen und Reichtum.
Jünglinge schreiten stolz in junger, blühender Freude, Jungfrauen spielen fröhlich in blütenumschlungenen Reigen tanzbeseligt dahin auf den weichen Blumen der Wiese:
alle, die du gesegnet, du spendende, heilige Göttin. Heil dir, Mutter der Götter, du Gattin des sternübersäten Himmels. Für meinen Gesang gewähre mir glückliches Dasein.
Ich aber werde deiner und andrer Gesänge gedenken.26
Es ist die innewohnende Seele des Erdplaneten, Göttin Gaia, die hier besungen wird: „uralte Nährerin der Geschöpfe“, „heilige Göttin“ und „Gattin des sternübersäten Himmels“ wird sie genannt. Die zuletzt erwähnte Bezeichnung verweist nochmals auf die mystische Ehe zwischen Gaia und Uranos, dem Himmelsvater und Beherrscher des Äthers; aus dieser Verbindung sind nach griechischer Theogonie alle Weltwesen hervorgegangen. Schließlich haben wir noch einen Orphischen Hymnus an die göttliche Erdenmutter. In diesem Rauchopfer-Hymnus wird unser Heimatplanet als „Göttliche Erde“, als „Allgeberin“, „Allernährein“, als „blumenprangende Gottheit“ und am Schluss noch einmal als „selige Göttin“ bezeichnet:
Göttliche Erde,
Mutter der seligen Geister
Und der sterblichen Menschen,
Allgeberin, Allernährerin,
Erfüllende, Allesverderbende,
Wachstumssprossende, waltend der Früchte,
Prangend im Kreise der Zeiten,
Sitz des unvergänglichen Alls.
Farbig schillernde Jungfrau,
Du trägst in kreißenden Wehen
Die vielgestaltige Frucht;
immerwährende, ewig-reine,
Tiefbusige, Spendrin des Glücks;
Du erfreust mit duftender Saat.
Blumenprangende Gottheit,
Regenfreudige, um die sich rundet
Kunstvoll das Sternenall,
Unvergänglicher Art
Und in reißenden Strömen.
Auf denn, selige Göttin!
Mehre die reichen Früchte der Freude
Gütigen Herzens den Hochbeglückten
In der glücklichen Zeiten Kranz!27
Die römische Tellus Mater
Mag Gaia auch eine griechische Erdgöttin sein, die Mutter Erde an sich ist eine uralte Gottheit, bei Römern, Kleinasiaten, Kelten, Germanen und vielen anderen Völkern des Altertums wohl bekannt. Die alten Italiker kannten übrigens eine der Gaia ganz ähnliche, die Erde verkörpernde Göttin mit dem Namen Tellus Mater, die in der Frühzeit große Bedeutung genoss, später aber völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Dichter Ovid kennt noch diese Göttin: „nährende Tellus“ nennt er sie in seinen Metamorphosen, aber ihre Spuren verlieren sich im Dunkeln, da sie von den römischen Haupt- und Staatsgöttern wie Jupiter, Juno, Mars und Apollo schon früh abgedrängt wurde. Überall dieselbe Geschichte der Verdrängung, überall dieselbe Entmachtung, Verbannung der Erdgöttin – in Indien wie im antiken Europa.
In einer von Natur- und Ahnengeistern durchwobenen Welt erschien die personifizierte Erde den Alten Italikern als die Terra oder Tellus Mater, deren Kult ursprünglich weitverbreitet war, später aber zunehmend zurückgedrängt wurde. Tellus Mater war vor allem die Göttin des Saatfeldes, die den fruchtbringenden Samen in ihren Schoß aufnimmt und sein Wachstum veranlasst. Das Hauptfest der Mutter Erde fiel auf den 15. April nach Beendigung der frühjahrszeitlichen Aussaat, und wegen des dabei dargebrachten Opfers trächtiger Kühe (fordae boves) nannte man dieses Fest die Fordicidia. Vier Tage darauf, am 19. April, feierte man der Ceres als der Fruchtbarkeits-, Wachstums- und Vegetationsgöttin das Ehrenfest der Ceralia. Der Name der Ceres hängt zwar eng mit dem lateinischen crescere für Wachsen zusammen, die Person der Göttin ist jedoch eindeutig mit der griechischen Demeter gleichzusetzen, deren Kult im Jahre 496 v. Chr. in Rom eingeführt wurde.
Der Ceres-Dienst war nichts anderes als die Fortführung der Demeter-Mysterien auf italischem Boden; an dem Kult der Göttin wurde aber so wenig geändert, dass ihre Priesterinnen auch in Rom Griechinnen sein mussten. Daneben gab es noch einen Kult der Fauna, die der Tellus Mater durchaus gleichzusetzen ist: ihr angesehenes Heiligtum zu Rom, dessen Stiftung am 1. Mai gefeiert wurde, lag am Fuß des Aventin; ihr Hauptfest aber begingen die vestalischen Jungfrauen und die vornehmen Bürgerinnen Roms unter Ausschluss aller Männer Anfang Dezember im Hause eines Konsuls oder Prätors durch ein geheimes Opfer. Auf dem Ara Pacis, dem Friedensaltar des Augustus, findet man eine Darstellung der Tellus Mater, die sie als früchtespendende Göttin zeigt, umgeben von den Tieren des Waldes sowie von den Verkörperungen des Wassers und der Luft. Dies alles zeigt, dass auch Rom die Erdgöttin verehrte!
In Indien geht die Verehrung der Erdgöttin bis auf die vorgeschichtliche Industalkultur zurück, die mit der Ausgrabung der Ruinen von Harappa und Mohenjo Daro wieder freigelegt wurde. Die vedische Frühzeit Indiens war durchdrungen von einem Geist tiefreligiöser Natur- und Erdverehrung, und noch im nachvedischen Indien besaß die Erdgöttin eine große Bedeutung. Man verehrte sie als Göttin Bhu oder Bhudevi, die dem Mythos zufolge vor der Schöpfung auf dem Grunde des Urmeeres ruhte. Dort fand sie Brahma und hob sie an die Oberfläche empor in Gestalt einer Lotosblume (Nymphaea stellata) mit vielen Blumenblättern, die sich prachtvoll öffneten, sobald sie das Licht erreichten.
In der Kunst wird Bhudevi, die Erdgöttin, mit einem blauen Lotos in der rechten Hand dargestellt. Sie wird oft als eine Inkarnation von Lakshmi, Vishnus Gemahlin, angesehen. Auch als Prithivi wurde die Mutter Erde im klassischen Indien verehrt; als Gattin des Dyaus, Mutter des Indra und des Agni war sie die Erde selbst, vergleichbar mit der griechischen Gaia oder der römischen Tellus Mater. Manchmal wurde sie als Kuh dargestellt, die den Schutz Brahmas, des Schöpfers, sucht. Die Gaben, die sie den Menschen schenkt, sind Korn und Früchte. Von manchen wurde sie als die Mutter aller Götter betrachtet, aber sie ist auch die Mutter aller Menschen, Pflanzen und Tiere, sodass