Götter und Göttinnen. Manfred Ehmer
Leben schenkt. Die Erdgöttin, einerlei unter welchem Namen sie auftritt, ist nicht nur eine der ältesten Gottheiten überhaupt, sondern auch eine weltweit verbreitete.
Dass die „Mutter Erde“ auch im indianischen Glauben eine zentrale Rolle spielte, belegt das folgende Zitat: „Bei den Eingeborenen von Nordamerika, den Indianern, spielt die Erdmutter die größte Rolle. Den Comantschen ist die Erde ihre eigene Mutter, der große Geist ihr Vater. General Harrison rief den Häuptling der Shawnees, Tecumseh, zu einer Unterredung. ‚Komm her, Tecumseh, und setze dich zu deinem Vater!‘ ‚Du mein Vater?‘ sagte der Häuptling. 'Nein, die Sonne dort (nach ihr hinweisend) ist mein Vater und die Erde ist meine Mutter, ich will an ihrem Busen ruhen', und er setzte sich an ihren Busen.“28
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat Gaia eine unerwartete Popularität erlangt durch die sogenannte Gaia-Hypothese, die von Jim E. Lovelock 1979 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Lovelock hat als erster wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Erde eine komplexe Ganzheit aus Ländern, Wäldern, Atmosphäre und Weltmeeren darstellt, und dass dieser Ganzheit eine planetarische Intelligenz zugrunde liegt. Diese zeigt sich in erster Linie als eine biologische Überlebens-Intelligenz, denn die Erde hat es vermocht, innerhalb der letzten 4½ Milliarden Jahre auf ihrer Oberfläche ein immer gleich bleibendes Lebensniveau aufrecht zu erhalten. Seit den Thesen von Lovelock ist Gaia zu einer der beliebtesten New-Age-Göttinnen avanciert, obwohl der Begründer der Gaia-Hypothese es gar nicht so esoterisch gemeint hat.
Uranos
Uranos, Allerzeuger, des Alls
Ewig unzerstörbarer Teil,
Erstgeborener, Anfang und Ende
Aller Dinge, Beherrscher der Welt,
Der in Kugelgestalt
Um die Erde sich rundet!
Orphischer Hymnus 29
In der altindischen Religion, deren heilige Texte die Veden sind, gibt es einen Gott namens Dyaus, auch Dyaus-pita oder Daus-pitri, das heißt „Licht des Himmels“ oder „Himmelsvater“; man kann ihn – gewiss auch mit Vorbehalten – mit dem griechischen Uranos gleichsetzen. Er ist der Urhimmelsgott schlechthin, denn „Uranos“ bedeutet ja übersetzt soviel wie „Himmel“. Uranos ist der gestirnte Himmel, das Weite, das Offene, das Weltall mit seinem Sternenkosmos. In der altindischen, vedischen Religion wird als seine Gattin Prithivi genannt, die Erde, die personifizierte Natur mit all ihrer Fruchtbarkeit, die dann wiederum mit der altgriechischen Gaia mit gutem Recht verglichen werden kann. Gemeinsam wird das Paar Dyaus-Prithivi genannt und als Stammeltern der Götter und Menschen betrachtet. Die Wesensverwandtschaft aller indoeuropäischen Religionen ist hier deutlich zu erkennen.
Uranos gilt als der Urvater des ersten und ältesten Göttergeschlechts auf Erden, der Uraniden; diesem folgt, von seinem Sohn Kronos begründet, das der Kroniden und zuletzt das der Olympier, auf Zeus zurückgehend. Diese Chronologie mag, was das Alter betrifft, sicher recht haben; denn, so schreibt Britta Verhagen: „Uranos ist ein sehr früher Name des Himmelsgottes, identisch mit dem Varuna der Indoarier und dem Ahura der Iranier. Dieser ‚Urahn‘ muss also in jener Zeit, als die Trennung zwischen Ost- und Westindogermanen stattfand, den Himmel beherrscht haben, denn beide Völkerkreise kennen seinen Namen als den des obersten Gottes.“30
In den Hymnen des Rigveda, aus indischer Frühzeit, begegnet uns nun dieser Urahn der Götter sehr häufig unter dem Namen Varuna; ob dies ähnlich klingt wie Uranos, mag einmal dahingestellt bleiben. Varuna ist eine sehr vielschichtige Gestalt. In den ältesten vedischen Zeiten galt er noch als der König des Universums und des sternklaren Himmels sowie als der Spender des Regens, bis diese letztere Aufgabe ihm von Indra, dem Donnergott (mit Zeus vergleichbar) abgenommen wurde. Später wurden seine Aufgaben auf die eines Meergottes beschränkt; aber in seiner ursprünglichen Macht und Majestät erscheint er noch in dem folgenden Hymnus aus dem Rigveda:
Den Himmel stützte der allweise Weltgeist
Und hat der Erde Weiten ausgemessen.
Er thront als König über alle Wesen,
Denn Varunas sind alle Schöpfungswerke.
Lobsinge denn Gott Varuna,
Und bet‘ ihn an, den Weisen, den Uralten!
O schirm‘ er uns mit dreier Panzer Stärke!
Himmel und Erde, schenkt uns euern Schutz auch!31
Was Uranos betrifft, so kommt er in der griechischen Mythologie eher am Rande vor. Er ist derjenige, der mit der Urgöttin Gaia die Heilige Hochzeit vollzieht; aber er hasst seine Kinder und will sie in den Schoß der Erde zurückstoßen. Ein schändliches Vergehen! Dafür wird er von seinem ältesten Sohn Kronos kastriert und aus dem Himmel gestoßen. Uranos ist also ein Gestürzter, ein Verworfener. Andere Göttergeschlechter sind an seine Stelle getreten. Alles, was von ihm blieb, ist eine blasse Erinnerung. Und da es in klassischer Zeit keinen Kult um Uranos gab, so existieren auch keine bildlichen Darstellungen von ihm.
Kronos
Feurig Flammender,
Vater der seligen Götter und Menschen,
Fleckenloser, schillernd vom Rate,
Gewaltiger, wehrhafter Titan;
Alles verschlingst du, um selbst es zu mehren,
Du hältst die unzerreißbare Fessel
Um das unermessliche All.
Orphischer Hymnus32
Kronos ist als das jüngste Kind aus der Heiligen Hochzeit von Uranos und Gaia hervorgegangen; mit Rhea verheiratet, der Urmutter der Götter, gilt er seinerseits als der Vater der Hauptgötter Zeus, Hera, Pluton, Demeter und Hestia. Sein Name wird oft als Chronos, d. h. die Zeit gedeutet, weshalb er dann als Beherrscher des Zeitraums gesehen wird. Als Zeitherrscher ist er aber auch für die Vergänglichkeit aller Dinge, für die Endlichkeit allen Daseins verantwortlich – ein wenig angenehmer Nebenaspekt der Zeit. Er entsprach dem römischen Saturn und regierte das Goldene Zeitalter; später wurde er auf die Inseln der Seligen entrückt, wo die unsterblich gewordenen Menschen wohnten. Kronos ist ein glückloser Usurpator, der seinen eigenen Vater Uranos entthronte und sich an dessen statt selber das Herrscheramt aneignete; doch da er, der Sage nach, seine eigenen Kinder verschlang, ging es ihm ebenso wie seinem Vater: er wurde gestürzt und verbannt. Daher ist Kronos eine unglückliche und unsympathische Figur. Doch als erster war ja Uranos derjenige, der seine eigenen Kinder in den Schoß der Mutter Erde zurückstoßen wollte; folgen wir hier dem theogonischen Mythos, wie er uns von Hesiod berichtet wird:
Denn von allen, die so aus Gaia und Uranos stammten, waren die schrecklichsten sie, verhasst dem eigenen Vater gleich von Anfang. Sobald einer von ihnen geboren, barg er sie alle und ließ sie nicht zum Lichte gelangen, tief im Schoße der Erde, sich freuend der eigenen Untat, Uranos. Aber es stöhnte im Innern die riesige Erde, grambedrückt und sann auf böse, listige Abwehr.33
Die List der Gaia bestand darin, dass sie plante, Uranos zu kastrieren, und die Tat sollte Kronos ausführen. Dieser erklärte sich auch dazu bereit, und so wurde ihm von Gaia eine große eiserne Sichel ausgehändigt (ein „graues Eisengebilde“, wie es im Text heißt), mit der er dann jene Tat vollbringt, die für Gaia eine echte Befreiung darstellt:
An kam mit der Nacht der gewaltige Uranos, sehnend, schlang er sich voller Liebe um Gaia und dehnte sich endlos weit. Da streckte der Sohn aus seinem Verstecke die linke Hand und griff mit der rechten die ungeheuerlich große schneidende, zahnige Sichel und mähte dem eigenen Vater eilig ab die Scham und warf im Fluge sie wieder hinter sich. Sie entflog nicht eitel und unnütz den Händen.34
Kronos,