Brennpunkt Hongkong. Alexander Görlach

Brennpunkt Hongkong - Alexander Görlach


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schützen, spannten die Demonstrierenden Schirme auf und gaben so der Bewegung ihren Namen.

      Im selben Jahr geschah das Gleiche in Taiwan: Die regierende chinafreundliche Partei KMT wollte durch eine weitreichende wirtschaftliche Kooperation die Insel so eng an die Volksrepublik binden, dass es über kurz oder lang aufgrund der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit zu einer politischen Übernahme gekommen wäre. Das zumindest befürchteten die Studierenden, die das Parlament, den Legislativ-Yuan, in Taiwans Hauptstadt besetzten. Ihre Protestbewegung trägt den Namen der Sonnenblume. Sie war schon das Symbol der Demokratiebewegung vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert, als sich der Inselstaat friedlich von einer Diktatur zur Demokratie wandelte.

      Der in Hongkong lehrende Politikwissenschaftler Brian Fong erklärt die Protestbewegungen, die in Hongkong und Taiwan als Reaktion auf Pekings übergriffiges Verhalten losgetreten wurden, mit seiner »Zentrum-Peripherie-Theorie«. Sie besagt, dass Fliehkräfte an der Peripherie entstehen, sobald das Zentrum gegenüber jener Peripherie härtere Töne anschlägt und so unter Druck setzt. Nach Brian Fong bedeutet das, dass Präsident Xi selbst verantwortlich ist für die Unabhängigkeitsbestrebungen, die an beiden Orten in Chinas Peripherie Bedeutung gewinnen. Gerade weil Hongkong und Taiwan verschieden gelagerte Fälle sind, die sich seit 2014 in dieselbe Richtung entwickeln, erscheint Fongs These plausibel. Hier verdichtet sich bereits jene Systemfrage, von der dieses Buch handelt: Worin besteht der hauptsächliche Unterschied zwischen einer freien, demokratischen Welt und einer unfreien, autokratischen? Es wird ersichtlich, dass sich die Menschen dort, wo sie die Wahl haben zwischen Demokratie und dem anderen Modell, für das unter anderem Präsident Xi steht, immer für die Demokratie entscheiden.

      Im Sommer 2019 forderte die chinesische Führung die Hongkonger erneut heraus. Ein sogenanntes Auslieferungsgesetz sollte dazu dienen, die unabhängige Justiz, die Hongkong zugebilligt ist, auszuhebeln. Nach dem Gesetz müsste jeder an die Volksrepublik ausgeliefert werden, der von China benannt wird. Bis zu zwei Millionen Menschen demonstrierten über Monate gegen dieses Auslieferungsgesetz, das die von Pekings Gnaden regierende Chief Executive Carrie Lam durchsetzen sollte. Im Juli 2019 war auch ich, zum zweiten Mal seit dem Ende meines dortigen Forschungsaufenthalts, zurück in Hongkong. Obwohl nur eine kurze Zeit vergangen war, hatte sich die Stadt merklich verändert: Bleierne Schwere und Pessimismus bestimmten das Leben in der Stadt. Gleichzeitig lag eine »Wer, wenn nicht wir«-Dringlichkeit in der Luft, mit der sich die Demonstrierenden gegen jene Ohnmacht und Unterdrückung wehrten, in die Carrie Lam sie bugsieren sollte. Auf den Straßen standen sich die beiden Welten – die beiden Systeme – gegenüber: auf der einen Seite die Demonstranten und auf der anderen die Hongkonger Polizei und jene Schlägertrupps, von denen die Demonstranten behaupteten, sie seien von Peking gesteuert.

      Der Ausbruch der Coronakrise hat diese Konfrontation nicht etwa verringert, sondern noch verschärft. In Hongkong mag es keine Demonstranten mehr geben, aber schon längst tobt der argumentative Streit darüber, ob eine Demokratie oder eine Autokratie besser in der Lage sei, eine Pandemie zu bekämpfen. Als chinesische Sicherheitskräfte die Stadt Wuhan am 23. Januar 2020 abriegelten und ihre Einwohner für zwei Monate in eine strenge Quarantäne befahlen, äußerten einige Stimmen, dass ein solches Vorgehen in Demokratien nicht möglich wäre. Doch bereits Ende März, als China begann, seine Ausgangsperren zu lockern, befand sich der Rest der Welt auch in Quarantäne und belegte damit eindrucksvoll, dass man Menschen nicht wegsperren muss, sondern sie mit guten Argumenten durchaus davon überzeugen kann, für ein hohes Gut – die Gesundheit der Mitmenschen – auf ihre anderen Freiheiten für eine bestimmte Zeit zu verzichten.

      Ich schreibe dieses Buch, während ich in New York im Lockdown sitze. Seit meiner Rückkehr aus Hongkong und Taiwan arbeite ich als Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und forsche weiter an meinem Thema, der Zukunft der Demokratie. New York ist zum Epizentrum der Krise in den Vereinigten Staaten geworden, mit abertausenden Erkrankten und mindestens 16000 Toten. Hier wurden noch spät Coronapartys gefeiert, trotz ausdrücklicher Aufforderung der Behörden, dass die Menschen sich sozial distanzieren sollten, um die exponentielle Ausbreitung des hoch ansteckenden Virus zu verhindern. Ähnliches wurde aus Berlin berichtet, wo ich noch eine knappe Dekade vor meinem Weggang in die USA gewohnt hatte. Solches Verhalten wäre in der Volksrepublik nicht toleriert worden, sagen Freunde des autokratischen Regierungsstils. Aber wer so einseitig denkt, sieht nicht, dass die Menschen in allen demokratischen Ländern die Vorgaben ihrer Regierungen akzeptierten und für mindestens zwei Monate in Quarantäne lebten. Für die Protestdemonstrationen in Deutschland, die ein Ende der Sicherheitsmaßnahmen fordern, haben 80 Prozent der Deutschen kein Verständnis.

      Was bedeutet diese Entwicklung für den Kampf um Hongkong? Im September 2020 soll ein neuer Legislative Council, ein neues Parlament, gewählt werden. Bei den letzten Lokalwahlen im Herbst 2019 zum District Council haben alle chinafreundlichen Parteien verloren. 17 von 18 Distrikten gingen damals an demokratische Kräfte. In einem Bericht nach Peking, der an die Öffentlichkeit gelangte, versprach Carrie Lam, das Vertrauen der Bürger durch ein gutes Management der Coronakrise zurückgewinnen zu wollen. Es wird entscheidend sein, mit welchen Instrumenten sie das zu bewerkstelligen versuchen wird. Sollte sie auf Maßnahmen setzen, mit denen Demokratien ihre Bevölkerungen in der Krise zum Handeln bewegen, würde dies das demokratische Lager stärken. Wahrscheinlicher ist also, dass sie einen anderen Weg geht. In der Volksrepublik arbeiten die Parteistrategen bereits mit Hochdruck daran, Präsident Xi und seine Nomenklatura als diejenigen zu positionieren, die China mit starker Hand vom Coronavirus befreit haben. Sie schrecken nicht davor zurück, Fakten ganz bewusst zu manipulieren. Einem Geheimdienstbericht in den USA zufolge soll Peking die Welt über das wahre Ausmaß des Ausbruchs in China weitestgehend im Unklaren gelassen und mit falschen Zahlen operiert haben.

      Der Grund, dieses Buch zu schreiben, ist in seinem Untertitel zusammengefasst: Warum sich in China die Zukunft der freien Welt entscheidet. In der gegenwärtigen Situation des Systemkonflikts zwischen freien Demokratien und unfreien Autokratien geschieht in der Peripherie der Volksrepublik Entscheidendes. Menschen gehen für die Demokratie auf die Straße und ermutigen damit auch Demokraten in anderen Ländern. Diese Inspiration wird, vor allem im Westen, dringend gebraucht, denn dort sehnen sich immer mehr Menschen nach starken Männern, nach populistischen Strongmen, die nicht lange fackeln.

      Die Volksrepublik ihrerseits wird dem demokratischen Treiben in Hongkong und auf Taiwan nicht tatenlos zuschauen. Während der Proteste im Jahr 2019 herrschte Angst in der Finanzmetropole, die in der Sonderverwaltungszone stationierte chinesische Volksbefreiungsarmee könnte aus den Kasernen ausrücken und Hongkongs Sonderstatus beerdigen. Während meines Aufenthalts auf Taiwan im Herbst 2017 war bereits darüber diskutiert worden, ob die Volksrepublik in der Lage wäre, die Insel einzunehmen. Diese Diskussion wurde aufgrund einiger Provokationen Pekings in der Luft und zur See gegenüber dem Eiland losgetreten. Auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas wenig später wurde Xi deutlich: Man werde keine Unabhängigkeit Taiwans akzeptieren und gegebenenfalls die Waffen sprechen lassen.

      Seine Kriegsdrohung wurde in weiten Teilen der Welt, auch vom deutschen Außenminister Heiko Maas, kritisiert. Wenn es China gelänge, die Demokratie in Hongkong und im benachbarten Taiwan zu zerstören, dann hätte das eine enorme Strahlkraft für das autokratische Modell. Für uns Europäer, für uns Deutsche, ist es daher alles andere als unwichtig, was in der nächsten Zeit auf der anderen Seite der Welt geschehen wird. Mit Hongkong steht nicht etwa nur ein global wichtiger Finanz- und Handelsplatz zur Disposition. Vielmehr sind diejenigen, die demokratische Ideale hochhalten und Politik auf Basis der Menschenrechte verfolgen, miteinander verbunden: in beiden Teilen Amerikas, in Europa, in Asien. Die regelbasierte internationale Ordnung, die von Demokraten erbaut und von demokratischen Idealen inspiriert ist, braucht für ihren Fortbestand die Demokratie in Ostasien.

      In Abwandlung des lateinischen Diktums Ut Roma cadit, mundus cadit, fällt Rom, dann fällt die ganze Welt, lässt sich sagen: Fällt Hongkong, dann fällt auch Taiwan. Wenn erst einmal diese beiden gefallen sind, dann wird auch unserer Freiheit die Totenglocke läuten.

      Der Zustand der Demokratie in der Welt: die autokratische Herausforderung

      Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert machten zwei Bücher Furore, Francis Fukuyamas


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