Brennpunkt Hongkong. Alexander Görlach
einzig und allein, dass sie oder er Staatsbürger sind. Menschenwürde, Verfassungsordnung und Staatsbürgerschaft sind die Trinität der Demokratie, die heute von ihren Gegnern als liberal bezeichnet wird. Die Legitimation des Nationalstaats liegt einzig darin, dass er in der Lage ist, diese drei Grundsätze zu garantieren und zu verteidigen. Ein Staat, der diese seinen Bürgerinnen und Bürgern vorenthält, kann kein legitimer Staat sein. Der demokratische Nationalstaat hingegen, dem einige bereits die Totenmesse gelesen haben, ist der stärkste Teilnehmer auf dem Marktplatz des Politischen. Demokratische Nationalstaaten brauchen gegenüber anderen Demokratien kein »Wir gegen die Anderen«. In der Diplomatie werden demokratisch verbundene Nationen als like-minded countries, als Gleichgesinnte, bezeichnet. Man kann auch einfach sagen, dass sie Freunde sind. Hongkong, Taiwan, Südkorea, Japan, die Mongolei, Deutschland, Frankreich, die USA, Südafrika, Uruguay – all diese Länder sind durch gemeinsame Ideale miteinander verbunden. Jedes dieser Länder hat seine Geschichten, Kulturen, Sprachen, Küchen, die zusammen zu einer jeweils eigenen Identität gewachsen sind. Das Entscheidende aber ist, dass die klassischen Trennungsparameter Nation und Religion nicht als exklusiv betrachtet werden, sondern sich der demokratische Verfassungsstaat, ganz im Sinne seiner antiken Vordenker, über das Recht und seine Anerkennung definiert.
Die Europäische Union ist, in ihrer Idealform, genau das: Sie weitet die Souveränität ihrer Bürgerinnen und Bürger über die Grenzen der Herkunftsländer dieser Menschen aus. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien, die behaupteten, dass die EU ihnen ihre Souveränität nähme, haben frech gelogen: Noch nie hatte eine Bürgerin, ein Bürger so viele Möglichkeiten wie in der Europäischen Union. Ein Engländer kann in Spanien leben und arbeiten, ein Italiener in Österreich und ein Franzose in Polen. Die Souveränität der Menschen, die als Bürger die Adressaten der Verfassung sind, hat sich durch diese länderübergreifende Einheit um ein Vielfaches vergrößert – und das im buchstäblichen Sinne. Auch für Gäste gelten die Menschenrechte und das Versprechen der Rechtsstaatlichkeit. Wenn ein Japaner in den Niederlanden Urlaub macht, dann muss er nicht fürchten, ohne Anwalt und Verfahren im Gefängnis zu landen oder gar Folter ausgesetzt zu sein. Diese demokratischen Grundsätze gelten für alle, die im Verbund der Demokratien befreundet sind, für Spanier, die nach Taiwan fliegen, genauso wie für Südkoreaner, die nach Italien kommen, oder für Deutsche, die nach Hongkong reisen. Umso mehr zeigt sich, um was für eine scheußliche Übergriffigkeit es sich bei dem oben erwähnten Auslieferungsgesetz handelt, das China in Hongkong unter Carrie Lam durchsetzen wollte: Nicht nur die Bewohner Hongkongs, sondern auch alle Besucher könnten jederzeit nach China ausgeliefert werden, wenn die Volksrepublik – die kein Rechtsstaat ist und die Menschenrechte nicht anerkennt – dies einfordern sollte.
Wenn Xi Jinping »einmal Chinese, immer Chinese« sagt, dann ruft er damit alle Angehörigen der Han-Ethnie auf, stets auf das zu hören, was »das Mutterland« vorgibt. Damit ignoriert der kommunistische Machthaber die internationale Ordnung und ihr Recht und setzt auf Spaltung. In Singapur ist die Mehrheit der Staatsbürger chinesischer Abstammung. Würden diese Xi Jinping Folge leisten, wären sie keine Bürger Singapurs mehr. Ein Bürgerkrieg wäre die Folge. Genauso geht der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan vor, wenn er deutsche Bundestagsabgeordnete türkischer Herkunft ordinär duzt und öffentlich anpöbelt. Als Türken hätten sie der türkischen Sache zu dienen. Wladimir Putin wiederum ist der Einzige, der versucht, das System von innen heraus auszuhöhlen. Er lässt auf der Krim russische Pässe verteilen und auf diese Weise über Nacht Ukrainer zu Russen machen. Jetzt ist er auch für sie zuständig und kann jederzeit behaupten, die russische Präsenz in der kriegsgebeutelten Zone diene allein dem Schutz russischer Staatsbürger.
In Polen und Ungarn machten sich die Autokraten daran, die Verfassung auszuhebeln, indem sie die Kontrolle über die obersten Gerichte ergriffen oder mittels Verfassungsänderungen den demokratischen Charakter ihrer Nationen zerstörten. Der ungarische Machthaber Orbán hat sein Land in den vergangenen Jahren so umgebaut, dass es ihm ein Leichtes war, sich in der Coronakrise mit solch einer umfassenden Macht auszustatten, dass es für Ungarn eigentlich unmöglich geworden ist, weiterhin Mitglied in der Europäischen Union zu bleiben. In dem Land hängen, vorschriftswidrig, seit Jahren schon keine europäischen Fahnen mehr an öffentlichen Gebäuden. Der Abschied aus dem Verbund der Freunde ist ein Abschied auf Raten.
Die Dreifaltigkeit der Demokratie – Menschenwürde, Verfassungsordnung und Staatsbürgerschaft – wirktnicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Denn der demokratische Staat existiert, wie wir gesehen haben, nur deshalb, weil er seinen Bürgerinnen und Bürgern garantieren kann, dass auf seinem Territorium die Menschenrechte anerkannt werden und jede staatliche Aktivität sich auf die Verwirklichung jener fairen und gerechten Gesellschaft richtet, die diese Menschenrechte einfordert.
Der 2009 verstorbene Soziologe und liberale Denker Ralf Dahrendorf nannte zwei Komponenten, die bei der Verwirklichung der demokratischen Idee essenziell sind: civil rights und social rights, Bürgerrechte und soziale Rechte. Sie sollen verbürgen, dass die Menschenwürde, von der die Verfassung spricht, ihr Dasein nicht als eine leere Hülle fristet. Menschenwürde als Postulat muss konkrete Auswirkungen haben. Unter civil können wir Rechte wie das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung verstehen. Unter social Zugang zu Bildung oder zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung. Die Anerkennung der Gleichheit aller verpflichtet zur gleichen Behandlung aller. Man kann nicht bürgerliche Rechte hochhalten, wenn keine sozialen Rechte mit ihnen einhergehen. Für die demokratische Nation bedeutet das, dass allen Bürgerinnen und Bürgern gleiche Teilhabe zusteht. Denn nur wer zur Schule gehen und einen Arzt aufsuchen kann, der hat die Möglichkeit, sich im Gemeinwesen zu etablieren und einzubringen. Teilhabe ist in der Praxis, was Souveränität in der Theorie ist. Diese Teilhabe ist ebenso die praktische Seite der Würde, die jedem Menschen in einer Demokratie zugesprochen wird. Über Teilhabe am Arbeitsmarkt erhalten Menschen Akzeptanz und ein soziales Umfeld. Nicht zuletzt erwirtschaften sie dort das, was sie zum Leben brauchen. Die Akzeptanz einer Demokratie beginnt genau dann zu erodieren, wenn in diesem Nukleus das Zueinander dieser Komponenten nicht mehr harmonisch ist. Kein fairer Zugang zu Gesundheitsversorgung und Ausbildung oder Arbeitslosigkeit verhindern die Teilhabe. Francis Fukuyama schreibt in Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, dass sich in der gegenwärtigen Zeit immer mehr Menschen entwürdigt fühlen. Wenn die Teilhabe unmöglich gemacht wird, wenn die Bürgerin oder der Bürger zu einer bloßen Nummer im Jobcenter wird, dann trifft das jeden Menschen hart in seinem Kern.
Francis Fukuyama weist damit auf einen Zusammenhang hin, der für den Aufstieg der Autokraten elementar ist: So auf sich selbst zurückgeworfen, wird für den Menschen die Emotion wichtiger als das nationale Argument. Es mag ja sein, dass der technologische Wandel zuerst Arbeitsplätze vernichtet, bevor neue entstehen. Es mag auch sein, dass es dafür Belege, Zahlen und Beispiele aus anderen Ländern oder der Vergangenheit gibt. Wenn man aber selbst von Arbeitslosigkeit heimgesucht wird und nicht weiß, wie man die nächste Miete, den Strom oder die Handyrechnung bezahlen soll, dann ist jeder mit sich allein.
In der Finanzkrise des Jahres 2008 verloren Hunderttausende US-Amerikaner ihr Zuhause. Etliche von ihnen zogen bei ihren Eltern, Geschwistern oder anderen Verwandten ein, in ein Gästezimmer oder in den dafür hergerichteten Keller oder auf den Dachboden, um nicht auf der Straße zu landen. Unter Präsident Barack Obama wurden die Banken gerettet, jene Hausbesitzer aber ohne mit der Wimper zu zucken in die Obdachlosigkeit geschickt. Das Gefühl der Entwürdigung – jede und jeder, die ihr Haus verloren haben, kennen es. In solch einem Moment steht die Akzeptanz der demokratischen Grundordnung auf dem Spiel. Denn wenn die Verfassungen von der unantastbaren Würde des Menschen tönen und diese in den Mittelpunkt staatlichen Handelns rücken, aber Entwürdigung das Gefühl der Stunde ist, dann ist die Einheit von bürgerlichen und sozialen Rechten zerbrochen. Für die, die so von der Krise getroffen wurden, wird die Rede von der Demokratie schal und leer.
Auch die Covid-19-Pandemie wird die Demokratien vor eine ähnliche Herausforderung stellen. Durch das Virus erleidet die Weltwirtschaft Schiffbruch. In den USA meldeten sich Ende März, Anfang April 2020 bereits rund zehn Millionen Menschen arbeitslos. Die Arbeitslosenrate, die in den USA vor der Pandemie bei 3,5 Prozent lag, könnte Schätzungen zufolge bis auf 30 Prozent steigen, was sogar die Zahlen der Großen Depression 1929 übertreffen würde! Immerhin gibt es