ATEMZUG. Eveline Keller

ATEMZUG - Eveline Keller


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Anfragen gemacht. Stundenlang suchte sie nach den richtigen Worten und bemühte sich, niemanden zu verletzen. Inzwischen hatte sich die Spannung etwas gelegt und sie stellte fest, dass leider die meisten Kontakte nur zu Beginn interessant erschienen. Mit zunehmender Übung teilte sie die ankommenden Anfragen in Gruppen ein.

      Da waren 'Die Schreibfaulen'. Wahrscheinlich mühten diese sich noch mehr mit Worten ab als sie. Oder sie wagten nicht mehr zu schreiben, um das Gegenüber nicht in irgendeiner Weise zu brüskieren. Oder sie waren von Natur aus wortkarg oder beherrschten die Sprache nicht. Sie gaben von sich selbst nur unter Zwang etwas preis. Ihre Antworten beschränkten sich auf: »Ja« oder »Nein«. Dafür wollten sie vom Gegenüber alles bis ins Detail wissen.

      Eine andere Gruppe waren die 'Romantiker'. Sie verschickten hochtrabende Gedichte, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, aber leider nichts über den Absender aussagten. Ein Kandidat sandte ihr irrtümlich zweimal dasselbe Gedicht. Das hatte sie sehr enttäuscht. Das war offensichtlich seine Masche, um die Damen zu beeindrucken.

      Die 'Küsschen-Handy-Nummer' waren die schnell Entschlossenen. Selbstbewusst verschickten sie virtuelle Küsse und ihre Handynummer. Für Liz waren sie die Aufreißer im Netz. Sie benahmen sich, als gelte es keine Zeit zu verlieren und wollten sich möglichst sofort ein Date.

      Die 'Schlüpfrigen', deren Texte enthielten viele doppeldeutige Bemerkungen. Nach kurzer Anlaufzeit schwenkten sie aufs Thema sexuelle Vorlieben um. Sie fand sie abstoßend und hielt sich die Typen vom Leib.

      Schließlich die 'Nullnummern', hier ordnete sie Kontakte zu, mit denen sie gar nichts anfangen konnte und gleich absagte.

      Mit den wenigen, die all diese Hürden schadlos überstanden hatten und immer noch Interesse zeigten, unterhielt sie sich für eine erstes Date.

      Obwohl sie längst aus dem Alter eines Teenagers herausgewachsen war, bekam sie dabei Herzklopfen und konnte nicht umhin vom großen Glück zu träumen. Es galt, möglichst keine Chance zu vergeben, darum war es klüger dabei einen klaren Kopf zu behalten. Sie wollte vor allem die Nieten aussortieren. Nur nicht nochmal so einen Missgriff tun wie mit Arnie, das war das Wichtigste.

      Und anders als früher, war heute ihre Freizeit äußerst knapp bemessen, umso mehr ärgerte es sie, wenn sie sie mit jemandem vergeudete. Auch für ihre Sicherheit hatte sie vorgesorgt und immer einen Pfefferspray in der Handtasche dabei. Trotz allem waren die letzten Verabredungen enttäuschend verlaufen. Und sie musste einsehen, dass obwohl sie eine breitere Auswahl durch das Internet hatte, es am Ende nicht einfacher geworden war, den passenden Partner zu finden.

      Doch erst musste sie die Sache mit ihrem Ex-Mann lösen. Er wäre laut Scheidungsurteil Unterhaltspflichtig, zumindest für die Kinder. Nur gezahlt hatte Arnie noch nie. Und da er keiner geregelten Arbeit nachging, hatte er offiziell kein Einkommen, das man hätte pfänden können. Liz hatte es zu Beginn versucht und ihn betreiben lassen, dazu musste sie erstmal Gebühren vorschießen und beim Amt vorsprechen. Am Ende war für sie kein Rappen dabei herausgesprungen, und stattdessen einen Verlustschein erhalten. Damit konnte sie sich nichts kaufen, man konnte sich damit nicht mal richtig den Hintern wischen. Also versuchte sie umsichtig zu wirtschaften, dass ihr Lohn für ihre Jungs und sie reichte.

      Wären da nicht Arnies Schutzgeldforderungen, deretwegen sich bei ihr mittlerweile ein Schuldenberg angehäuft hatte. Alle paar Monate rief er an und drohte die Kinder zu entführen, wenn sie nicht eine bestimmte Summe zahlte. Sie hatte sich anfangs gewehrt, ihn angefleht und ihn beschworen damit aufzuhören, bis sie heiser war. Sie hatte ihm gedroht und sämtliche Überredungskünste angewendet; ihr wurde heute noch übel, wie sie gebettelt hatte. Doch er blieb stur. Und so liefen die Gespräche nun ziemlich einsilbig ab.

      Es wurde für Liz zu einem nicht enden wollenden Albtraum. Ihre anfängliche Angst, dass er die Kinder verschwinden lassen würde, hatte sich mit der Zeit auf eine dumpfe Bedrohung reduziert. Immer wieder raubte es ihr den Schlaf. Bisher waren die Forderungen und die Geldübergaben immer gleich verlaufen. Liz wagte nicht daran zu denken, was geschähe, wenn Arnie plötzlich neue Bedingungen stellen würde.

      Die latenten Erpressungen wurden unerträglich und ihre Schulden türmten sich immer höher. Eine Lösung musste her. Sie hatte auch eine Idee wie. Heute war ein besonderer Tag. Es war der Tag, an dem sie sich von diesem Blutsauger Ex für alle Zeiten befreien würde. Wenn alles nach Plan verlief, würde sie ihn heute zum letzten Mal sehen. Aus naheliegenden Gründen war sie nicht traurig über das Ende. Und diesmal hatte Arnie am Telefon einen unanständig hohen Betrag gefordert, weil er sich ins Ausland absetzen wollte. Er wird hoffentlich nie mehr wiederkommen. Versprochen hatte er es und auf seine verstorbene Großmutter geschworen. Gott hab sie selig, und die Bibel.

      Liz wollte dafür sorgen, dass er sein Versprechen hielt und wenn nötig etwas nachhelfen. Ihr Plan war einfach. Verstohlen griff sie in ihre Handtasche und berührte den kalten Stahl. Sie bekam eine Gänsehaut. Sie hatte den Revolver schon mal getestet und damit auf einem abgelegenen Fabrikareal Schießübungen absolviert. T rotzdem war ihr das Vorhaben unheimlich, denn sie wusste, bedrohte Menschen neigten zu unerwarteten Reaktionen. Und derjenige, der die Waffe hielt, musste sich nur zu einer impulsiven Bewegung hinreißen lassen, schon war einer, peng, tot!

      Sie erschauerte. Zweifel stiegen in ihr hoch. War das wirklich eine gute Idee? Doch sie handelte aus der Not und mit dem Mut der Verzweiflung. Sie musste die unsägliche Abwärtsspirale von Erpressung, Angst und Schuldenberg durchbrechen. Die Waffe war ein Mittel, um ihre Freiheit wieder zu erlangen. Liz war fest entschlossen sich heute das Problem Arnie vom Hals zu schaffen.

      8.

      Arnie wartete wie verabredet bei der leerstehenden Fabrikruine am Rande des Industriegebietes. Das baufällige Gebäude lag abgelegen. Auch unter der Woche verirrte sich selten jemand hierher. Es diente spielenden Kindern als Mutprobe, oder sie veranstalteten Zielschießen auf die kaputten Fenster.

      Das ehemalige Metallveredelungswerk stammte aus dem Jahr 1943 und hatte seine Blütezeit in den fünfziger und sechziger Jahren gehabt. Damals wusste man noch wenig über mögliche Folgeschäden, die durch die krebserregenden Substanzen, die bei der Metallveredelung verwendet wurden, entstehen konnten. Entsprechend sorglos ging man im Werk damit um und schützten sich nur mangelhaft.

      Irgendwann in den Achtzigern war die Produktion aufgrund neuer Sicherheitsverordnungen und Umweltgesetze in den Osten nach Polen verlagert worden. Das Gebäude und der Vorplatz wurde danach an Kleingewerbe weitervermietet, an einen Autospengler, eine Transportfirma und einen Getränkehändler. Dann als der Eigentümer starb, vererbte er das Fabrik-Areal der Stadt Winterthur. Die Freude über dieses Geschenk währte nicht lange.

      Später vermutete man, dass der Besitzer um die Giftfässer wusste, die jahrelang in den Boden neben der Fabrik entsorgt worden waren. Erst Jahre später, in den Neunzigern, entdeckte man als man eine Umnutzung des Areals plante, die unsachgemäß eingelagerten Fässer. Der Skandal ging durch die Presse und auch die letzten Mieter suchten das Weite.

      Eine Untersuchung der Bodenbeschaffenheit hatte ergeben, dass alles in und um die Hallen herum derart mit Giftstoffen belastet war, dass Abbau und Entsorgung sehr teuer werden würden. Also schob man das Projekt auf, und seither dämmerte das Areal vor sich hin und war dem Zerfall und der wuchernden Natur ausgeliefert.

      Arnie war überpünktlich, eigentlich zu früh. Er wollte abkassieren, da war immer hundertprozentig Verlass auf ihn. Diesem Gedanken hing er für einen Augenblick nach und grinste, sodass sich sein Doppelkinn faltete. Er hätte Steuereintreiber werden sollen, dachte er. Am nötigen Biss dazu würde es ihm nicht fehlen.

      Die Sonne sank immer tiefer und tauchte die Umgebung in rötlich braunes Licht. Arnie drückte seine Zigarette aus und steckte sich gleich die nächste an. Er sollte das Rauchen aufgeben. Es war ungesund und überall wurde es verboten. Aber so vieles, was Spaß machte war ungesund. Gesund zu leben war etwas für Langweiler. Er jedenfalls hatte dazu keine Lust. Wozu auch? Um gesund zu sterben?

      Seine Gedanken wanderten weiter und er dachte lieber an die Zukunft. Was würde er mit dem ganzen Geld machen, wenn er es geschafft hatte? Es war der Superknüller seiner ganzen Verbrecherkarriere, sozusagen sein persönlicher Höhepunkt. Und das Beste war:


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