ATEMZUG. Eveline Keller

ATEMZUG - Eveline Keller


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erstes Kind zur Welt und ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Baby. Trotzdem, zwischen Liz und Arnie entbrannte ein zermürbender Kampf: Er versuchte sie von seiner Sichtweise der Dinge überzeugen, beschwor sie immer wieder mit seinem Hundeblick: »Ich liebe dich so sehr. Ich täte alles für dich. Nur dieses eine Mal verlange ich einen klitzekleinen Gefallen von dir, mit dem du mir beweisen kannst, wie sehr du mich liebst.«

      Im Gegenzug wollte sie ihn auf den rechten Weg zurückbringen, mit einer geregelten Arbeit und ihrer kleinen Familie. Als ehemals ausgebildeter Konditor hätte er sicher eine Stelle gefunden. Aber das war Arnies Sache nicht.

      Er glaubte daran, dass man sich das Leben nur richtig zurechtbiegen musste, um sich ein Stück vom Glück sichern zu können. In einem letzten Versuch, sich zu versöhnen, wurde der zweite Sohn gezeugt. Als er das Licht der Welt erblickte, waren sie bereits geschieden. Liz hatte sich für den Weg einer alleinerziehenden Mutter entschieden.

      Zutiefst verletzt und beleidigt gab Arnie an, kein Geld zu haben, um Alimente zu zahlen. Das war unfair. Zum Glück verdiente sie genug und konnte für die Familie sorgen. Das hätte soweit funktioniert.

      Bis der Kinds-Vater, das hinterlistige Wiesel, begann von ihr Schutzgeld für die Jungs herauszupressen. Von da an lebte sie in ständiger Not, besorgt um deren Sicherheit und woher sie das Geld nehmen sollte. Vor drei Jahren hatte Arnie damit begonnen: Er holte ihre Söhne direkt von der Schule ab und verschwand mit ihnen. Dann rief er an und forderte Geld, sonst würde sie sie nie wiedersehen. Liz hatte ihn angefleht, die beiden nicht in seine Machenschaften hineinzuziehen und sie in Ruhe zu lassen. Er war einverstanden. Aber nur, wenn sie pünktlich zahlte.

      Und hier stand er nun. Ihr lebendig gewordener Albtraum. Sein wabbeliges Unterkinn reckte sich immer wieder in ihr einfaches, geordnetes Leben. Seine seltsame Art Besuche abzustatten, erstaunte sie längst nicht mehr. Auch heute nicht. Was würde er davon halten, wenn sie mal den Spieß umdrehte?

      »Nehmen sie sofort ihre schmutzigen Hände weg!«, schrie sie.

      »Spinnst du jetzt? Ich bin es Arnie – hör auf damit!«, rief er.

      Draußen vor der Kabine hatten die Verkäuferinnen und Kunden den Schrei gehört und eilten zu Hilfe.

      »Verlassen sie sofort diesen Laden und kommen sie nie wieder. Sie haben hier ab sofort Hausverbot!«, herrschte Liz ihn an. Sie trat aus der Kabine und zeigte stumm auf die Ausgangstür. Verkäuferinnen und Kundinnen hatten sich vor der Umkleide versammelt und blickten Arnie drohend an.

      »So nicht! Das wirst du mir büßen!«, zischte er ihr beim Vorbeigehen zu. Aber angesichts der aufgebrachten Menge gab er sich geschlagen und bahnte sich den Weg hinaus.

      »Machen sie, dass sie rauskommen«, eine ältere Dame stieß ihn mit ihrem Schirm. Eine andere rief: »Perversling.«

      »Die werden immer dreister«, meinte Sereina und legte Liz tröstend den Arm um die Schultern. »Komm wir gehen einen Kaffee trinken.«

      »Danke. Im Moment brauche ich ein paar Minuten für mich«. Sie quälte sich ein Lächeln ab und ging in ihr winziges Büro, wo sie sich hinsetzte und ihre Knie umarmte. Diesmal war sie glimpflich davongekommen. Es tat gut, Arnie eins auszuwischen. Aber beim nächsten Mal würde er sich nicht so einfach verscheuchen lassen. Trotzdem, sein dummes Gesicht war die ganze Sache wert gewesen. Sie gratulierte sich zu ihrem spontanen Einfall. Er hätte ihr die Geschichte mit dem Taschendiebstahl sowieso nicht geglaubt. Er wird nun zwar vor Wut kochen, aber sie hatte kostbare Zeit gewonnen. Zeit, die sie dringend benötigte, um eine Lösung zu finden. Wenn er sie das nächste Mal aufsuchte, war ihr vielleicht eine Möglichkeit, wie sie das Geld auftreiben konnte eingefallen, oder sie hatte im Lotto gewonnen, oder sie hatte einen Millionär geheiratet.

      All diese Ideen hatten eines gemeinsam: Sie beinhalteten viel Hoffnung und die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon eintraf, war minimal.

      5.

      Harry wurde eine Stunde nach seiner Verhaftung von seinem Assistent Norbert von der Staatsanwaltschaft ausgelöst, indem er für ihn bürgte.

      »Chef, schlecht gestartet heute? Sehen sie es mal positiv: Der Tag kann nur noch besser werden.« Der Anblick seines Vorgesetzten Bennet in der Einstellzelle der Polizeistation war der Brüller.

      »Ts, Ts, verwickelt in einen Entreißdiebstahl. Ich sehe schon die Schlagzeile: Staatsanwalt verdient nicht genug zum Leben und muss sich mit lukrativem Nebenverdienst den Lohn aufbessern.«

      »Halten Sie den Mund, Norbert! Sonst könnte ich mich vergessen«, murrte Harry. Ihm war nicht zum Spaßen zumute.

      »Nehmen sie es nicht persönlich. Das könnte schließlich jedem passieren.« Dazu machte Norbert komische Geräusche bei seinen Bemühungen, sich das Lachen zu verkneifen und einen der Situation entsprechenden, neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

      Harrys Hand ballte sich und es fiel ihm unendlich schwer, ihm keine reinzuhauen. »Ich sage dir: Die Frau und der Dieb stecken unter einer Decke«, biss er zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe das im Urin. Die haben mich mit dieser Handtaschennummer reingelegt.« Und er war ein williges Opfer gewesen und hatte sich zum Affen machen lassen. Das ärgerte ihn am meisten. Er rang mit seinem angeschlagenen Ego. Typisch: Steht eine halb nackte Frau herum, schon lässt er sich ablenken und denkt mit dem Schwanz!

      Harry flüchtete zur Tür hinaus, er hatte es eilig wegzukommen.

      »Bis ein andermal«, verabschiedete sie der Portier heiter. Und bekam zur Antwort: »Nicht in diesem Leben.«

      Sie setzten sich in Norberts Auto und er lenkte es geschickt durch den Vormittagsverkehr von Winterthur. Während der Fahrt starrte Harry missgelaunt vor sich hin. Wie er den Vorfall auch drehte, das Ganze ergab keinen Sinn.

      »Vielleicht wollte man von einem anderen, größeren Verbrechen ablenken?«, sprach er eine Vermutung aus.

      »Da war heute nichts«, antwortete Norbert.

      Inzwischen waren sie bei der Staatsanwaltschaft angekommen. Harry stürmte ins Gebäude, durchschritt die Halle und galoppierte die Treppe hinauf. »Wie auch immer: Wenn mir je einer der beiden wieder begegnet, können sie was erleben!« Mit diesen Worten betrat er sein Büro und schloss die Tür mit Schwung.

      Noch selten war ihm der Anblick seiner Arbeit so willkommen gewesen. Da wusste er, woran er war. Er konnte sich darin vertiefen und die peinliche Geschichte möglichst schnell vergessen.

      Zwei Stunden später, fest in die Arbeit vergraben, war sein Gleichgewicht wiederhergestellt. Hier galt es, höchst komplexe Fälle zu lösen. Da war kein Platz für zänkische Nixen, die einem hyperventilierend in die Arme sanken. Deren verführerische Körper man gerne auffing und sich dafür mit einem Lächeln zum Deppen machen ließ.

      Seine Hände erinnerten sich daran, wie sich ihre samtene Haut angefühlt hatte. Und diese weichen, vollen Lippen. Wie wäre es wohl, sie zu küssen?

      Harry ließ die Akte sinken und betrachtete seine Finger, mit denen er sie berührt hatte, als wären sie verzaubert. Blödsinn! Er war zum Arbeiten hier. Mit eiserner Disziplin schob er das Bild der Frau zur Seite. Träumen konnte er nach Feierabend. Jetzt war keine Zeit dafür.

      Doch er kämpfte auf verlorenem Posten, die hypernde Xanthippe ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Die Art wie sie in seinen Armen gelegen hatte, tauchte wieder und wieder vor seinem geistigen Auge auf, als würde jemand auf die Replay-Taste drücken. Es war wie verhext.

      So ging gar nichts mehr. Seufzend erhob er sich, holte sich einen Espresso und vertrat sich die Beine. In der Toilette war ihm für einmal das grelle Neonlicht willkommen und er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er sah aus wie immer, etwas farblos die Haut, ansonsten konnte er nichts in seinem Gesicht entdecken, das auf seine einseitigen Gedankengänge hindeuten würde.

      Was war bloß mit ihm los?

      Er ging in sein Büro zurück und vertiefte sich mit neuem Elan in seiner Arbeit. Unter anderem galt es, den Einbruch bei Juwelier van Hohenstett zu klären.

      »Schwein! Harry, Schwein!«

      Beim


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