ATEMZUG. Eveline Keller

ATEMZUG - Eveline Keller


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und schob seinen Luxuskörper locker durch die Gänge. Keiner hier hatte ihn je wütend gesehen; nur wenige Ex-Freundinnen hatten das erlebt, aber die zählten nicht. Weil sie danach bestürzt jede Verbindung zu ihm abbrachen.

      Das war für ihn ein Reizthema: Beziehungsgespräche, in denen die Frauen vor allem seine Fehler analysierten und sich damit in einer Endlosschlaufe drehten. Er kam sich dabei total allein und zurückgesetzt vor. Als wäre er ein Mann mit Prädikat sehr kompliziert und keine Frau zu ihm je passen könnte. Lag es daran, dass er eine dominante Mutter hatte, die sich heute noch in sein Leben einmischen würde, wenn er sie lassen würde? Er war kein Psychiater, aber er war überzeugt, dass er mit der richtigen Frau glücklich werden konnte.

      Zurzeit mochte er sowieso nicht an eine feste Bindung denken. Erst vor drei Monaten war seine letzte Beziehung zerbrochen, ohne seine Schuld. Angesichts dessen vorübergehend mutlos geworden, verschrieb er sich eine Beziehungspause. So, saß er nun gerne nach dem Training mit seinen Freunden bei einem Bier zusammen. Er mochte diese Abende, an denen nicht viel geredet wurde, man spontan sitzen blieb und zu nichts verpflichtet war.

      In seinem Büro in der Staatsanwaltschaft ließ Harry das Protokoll, das er las auf den Arbeitstisch sinken. Es war nach sechs Uhr abends, die Kollegen hatten sich einer nach dem anderen verabschiedet. Und es wurde auch für ihn Zeit, Feierabend zu machen. Mit gemischten Gefühlen räumte er die Akten weg. Der vertraute Frust der Verlassenheit kroch ihm über die Schultern, denn zu Hause wartete niemand auf ihn.

      »Schau, da ist jemand, der sich wenigstens um mein Auto gekümmert hat«, witzelte er und klaubte einen Strafzettel unter dem Scheibenwischer heraus. Er stieg in sein silbergraues Cabriolet und fuhr zu seinem topmodernen Loft, in einer umgebauten, ehemaligen Knopffabrik. Die klaren – ja nüchternen Formen der Industriegebäude waren genau nach seinem Geschmack und entsprachen seinem Hang nach Dynamik und Geradlinigkeit. Das absolute Gegenteil zur Reihen-Einfamilienhäuschen-Romantik, wo eines wie das andere aussahen, und die nur im Verband Sinn machten.

      Sein Magen machte sich bemerkbar. Als er das letzte Mal in seinen Kühlschrank geschaut hatte, befand sich ein Bund verwelkte Petersilie und eine Flasche alkoholfreies Bier darin. Seine Versorgungskette war dem posttraumatischen Zustand eines Junggesellenhaushalts zum Opfer gefallen. Das reichte nicht mal für eine Diät. Und je länger er an nicht vorhandenes Essen dachte, umso hungriger wurde er. Am besten, er ging auf ein Bier in Marios Ristorante und während er trank, bereitete der ihm eine Pizza zu, zum nach Hause nehmen.

      Kurze Zeit darauf, fiel hinter ihm die Haustür, mit einem dumpfen Ton ins Schloss.

      Früher, in seiner Studienzeit, während der er sich nur ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft leisten konnte, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als eine große Wohnung für ihn allein zu haben. Nun, da er sie hatte, fühlte er sich oft einsam. Die modische Einrichtung wirkte heute unbenutzt und kühl. Es gab Tage, da kam er nur zum Schlafen hierher. Da war keine Zeit, um etwas zu spüren. Aber an Tagen wie heute wünschte er sich einen Menschen, mit dem er sich austauschen konnte.

      Müde hängte er seine Jacke in die Garderobe, schlüpfte aus den Schuhen und zog sich bequeme Trainingshosen und ein T-Shirt mit der Aufschrift »sexy 4 u« über. Der würzige Duft der Pizza ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er holte sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank und machte es sich auf dem Sofa bequem. Genüsslich biss er in die mit Peperoni, Artischocken und Schinken belegte Pizza. Sie schmeckte köstlich. Kauend machte er den Fernseher an und klickte von Kanal zu Kanal, doch keine der Sendungen traf bei ihm auf Interesse.

      Stattdessen fiel ihm immer wieder das Bild der Venus-Frau ein, wie sie da im Gegenlicht gestanden hatte, leicht vorgebeugt ihre Strümpfe richtend, war sie völlig vom Sonnenlicht ausgeleuchtet. Der Punkt war: Eine Frau, die sich die Strümpfe richtete, war einer der ältesten Tricks, um für Ablenkung zu sorgen. Und allemal spannender als das aktuelle TV-Programm, trotz einer Auswahl aus über Hundert Sendern.

      Er spürte wie sein Blut anfing zu pumpen. Es war ihm manchmal peinlich, wie sein Körper reagierte, wenn er Frauen in filigraner Unterwäsche sah, die die Vorzüge des weiblichen Körpers ausgezeichnet zur Geltung brachten. Da kam es vor, dass sein Verlangen überhandnahm und seinen Verstand außer Gefecht setzte. Würde sich das nie ändern, fragte er sich.

      Solange er zurückdenken konnte, war das so. Entspannt legte er seine Füße hoch und dachte an einen peinlichen Vorfall, den er mit achtzehn erlebte. Es war an einem Morgen gewesen, er stand kurz vor der Maturaprüfung. Die Mathestunden waren ausgefallen, und er war gelangweilt durch eines der großen Warenhäuser an der Bahnhofstrasse gestreift. Vor der Abteilung mit Damenunterwäsche blieb er stehen und betrachtete neugierig die Auslage. In einem biederen Haushalt aufgewachsen, sah er solch verführerische Kreationen zum ersten Mal. Doch in einer Abteilung wo es um die Intimwäsche der Frauen ging, waren Männer, zumindest zu der Zeit verpönt. Darum hatte sich Harry erst umgeschaut, doch so früh am Morgen schien die Abteilung leer zu sein. Keine Menschenseele weit und breit. Zögernd betrat er die ihm fremde Welt. In Erwartung, dass jeden Augenblick jemand den Kopf hervorstrecken würde, und ihn anfuhr, stahl er sich von Ständer zu Ständer. Doch nichts geschah.

      In erotischen Details malt er sich aus wie sich die Büstenhalter, Mieder und Slips an die weiblichen Rundungen schmiegten. Die Erregung brachte sein Blut in Wallung, es pochte durch seinen Körper, ihm wurde heiß und sein Atem ging als wäre er vier Stockwerke hochgestiegen. Ganz zart strich er mit der Hand über die mit Spitzen verzierte Wäsche. Sie war seidenweich, nur schon die Berührung bereitete ihm sinnliches Vergnügen. Da blieb er mit einem Fingernagel an einem Tanga hängen. Nervös riss er sich los.

      Das war zu heftig, für das filigrane Gewebe und ein kleines Loch war entstanden. Was nun? Der String war teuer, sein Taschengeld reichte dafür nicht aus. Vielleicht konnte er es verschwinden lassen. Er ging zu den Umkleidekabinen. Ein liegengebliebener Tanga würde hier nicht auffallen.

      Das erste Abteil war unbesetzt. Mit angehaltenem Atem zog er den Vorhang zur Seite und stieß erleichtert die Luft aus. Hier würde es gehen. Doch im nächsten Moment fand er sich Auge in Auge, mit einer Verkäuferin wieder. Ihr freundliches Lächeln wechselte, im Bruchteil einer Sekunde, auf Empörung. »Und bitte was suchen Sie hier? Männerunterwäsche gibt’s im Ersten!«, herrschte sie ihn an. »Bitte gehen Sie unverzüglich, junger Mann! Oder ich rufe den Chef und lasse Sie entfernen.« Und schon drosch sie mit einer Handvoll Kleiderbügel auf ihn ein.

      »Ich wollte nur – Autsch! Ich gehe ja schon!« Er war Hilfe suchend dem Ausgang zugeeilt, um ihren Schlägen zu entkommen.

      Harry räkelte sich auf seiner Sitzgruppe, auf der gut eine ganze Fußballmannschaft Platz gefunden hätte. Der String war noch irgendwo zwischen seinen Studiensachen. Zufrieden grinsend kehrten seine Gedanken wieder zurück, zur aktuellen Situation. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Es war logisch, dass ihm die Frau mit den Strümpfen gefallen hatte.

      Da bliebe sein Blick an den Bildern hängen, die vor ihm über den Bildschirm flimmerten. Was die blonde Sprecherin der Abendnachrichten erwähnte, ließ ihn aufhorchen und er stellte den Ton lauter: »…hat ergeben, dass es sich bei dem Einbruch in das renommierte Juweliergeschäft von van Hohenstett, um den Coup des Jahres handelte. Die Diebe erbeuteten nach neuester Schätzung Diamanten im Wert von nahezu fünfzehn Millionen Schweizer Franken. Die Polizei tappt noch weitgehend im Dunkeln über die Täterschaft. Staatsanwalt Bennet war heute zu keiner Stellungnahme zu erreichbar. Es herrscht Nachrichtensperre.

      Wie wir aus gut unterrichteter Quelle erfahren haben, hatten die Einbrecher vermutlich Helfer. Die Türen waren nicht aufgebrochen worden und der Laden war nach Angaben des Juweliers mit einer Alarmanlage gesichert.«

      Harry sprang auf: Wer hatte da geplaudert? Sein Assistent hatte heute mehrere Anrufe von Journalisten abgewiesen, aus genau diesem Grund. Sie wollten alle aus ihnen irgendeine Antwort heraus kitzeln und sie mit Fangfragen zu einer Stellungnahme drängen. Das waren sie sich gewohnt, hinderte sie jedoch oft ihre Arbeit zu machen.

      Wie üblich, hatten sie die Medien an ihre Pressesprecherin verwiesen, die wird sie in regelmäßigen Abständen mit Mitteilungen versorgen. Denn falsche Zitate richtigzustellen, diese Mühe machte sich heute kaum jemand mehr, weil keiner zuhörte.

      Er


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