Die Vertrauensfrage. Jutta Allmendinger

Die Vertrauensfrage - Jutta Allmendinger


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werben, müssen wir also zuerst fragen: Wie verhalten sich Vertrauen und Kontrolle zueinander? Schließen sie sich wirklich aus?

      Vertrauen und Kontrolle

      Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und haben kein Vertrauen mehr. In nichts und niemanden. Kein Vertrauen in sich selbst. Schaffen Sie es aus dem Bett? Wie sollen Sie den Tag bewältigen – ohne Vertrauen in die Menschen, mit denen Sie leben, Ihre Partner, Kinder oder Mitbewohnerinnen? Die führen doch bestimmt etwas im Schilde! Sind Sie überhaupt noch sicher in den eigenen vier Wänden? Allerdings sähe es draußen nicht besser aus. Den Menschen auf der Straße kann man erst recht nicht trauen. Also doch besser im Bett bleiben? Wer garantiert Ihnen, dass den Sicherheitsstandards, die Ihr Bett erfüllen soll, überhaupt zu trauen ist und dieses nicht im nächsten Moment zusammenbricht?

      Statt auf Vertrauen setzen Sie nun also auf Kontrolle, auf Wissen. Wie können Sie Ihren Körper kontrollieren? Immerhin gibt Ihnen Technik die Möglichkeit, die wichtigsten Körperwerte ständig zu überwachen, und lässt Sie wissen, ob Sie fit für den Tag sind. Auch regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim Arzt sind zu schaffen. Auf den zweiten Blick müssen Sie jedoch auch der Technik und dem Arzt erst einmal vertrauen. Was Ihre Wohnung angeht, wird es schon aufwendiger. Am sichersten scheint das Überwachen mit Videokameras. Aber woher die Zeit nehmen, die ganzen Aufnahmen zu sichten? Sie brauchen also Angestellte, die das für Sie übernehmen. Und eine Hausmeisterin, die Sonderschichten einlegt, um auch Ihre Einrichtung regelmäßig auf Sicherheit zu überprüfen. Schließlich sind da noch Ihre Nachbarn, weshalb Sie einen Sicherheitsdienst benötigen. Und noch mehr Kameras. Und bei all dem Personal stellt sich die Frage: Wie kontrollieren Sie eigentlich Ihre Angestellten?

      Irgendwann in der langen Kette müssen Sie folglich dennoch vertrauen. Vertrauen und Kontrolle schließen sich also gar nicht aus. Vielmehr sind sie eng aufeinander bezogen. Was intuitiv erst einmal schwer nachvollziehbar ist, ist letztlich eine Grunderkenntnis unserer Wissenschaft, der Soziologie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb der Soziologe Georg Simmel über eine Welt, in der die Industrialisierung, die anonyme Großstadt und die Oberflächlichkeit des modernen Lebens noch relativ neue Phänomene waren. Vor allem beschäftigte ihn die Frage, wie eine Gesellschaft, in der die Leute sich nicht mehr kennen, nicht auseinanderfällt und in Mord und Totschlag endet. Was hält sie zusammen? Seine Antwort: Vertrauen.1

      Mit Blick auf unser heutiges Leben würde Simmel fragen: Wie viel wissen Sie von den Menschen, mit denen Sie im Alltag zu tun haben, wirklich? Von den anderen Verkehrsteilnehmern, der Verkäuferin im Geschäft, Ihrer Ärztin, Ihren Arbeitskollegen, ja selbst von Ihren Freunden? Alles in allem nicht besonders viel, zumindest nicht genug, um hundertprozentig sagen zu können, mit wem Sie es zu tun haben. Sie verbringen eben nur einen bestimmten Ausschnitt Ihres Lebens mit ihnen. Laut Simmel spielt das jedoch keine Rolle. Es genügt, wenn Ihnen diese Leute im Hinblick auf diesen Ausschnitt zuverlässig erscheinen. Wenn sie sich im Straßenverkehr erwartbar verhalten, wenn die Verkäuferin freundlich ist und Ihnen Dinge verkauft, ohne Sie zu hintergehen, wenn Ihre Ärztin kompetent ist, Ihre Kollegen halbwegs zuverlässig sind und Ihre Freunde Sie nicht andauernd versetzen.

      Dieser mit anderen geteilte Ausschnitt reicht, um ein gemeinsames Verständnis für die Situation zu entwickeln und das eigene Verhalten darauf abzustimmen: sich gemeinsam durch den Verkehr zu bewegen, einzukaufen, den Körper untersuchen zu lassen, Zeit miteinander zu verbringen. Es braucht nur genügend Anhaltspunkte dafür, dass sich andere Menschen auch tatsächlich so verhalten, wie man selbst es erwartet. Vertrauen ist demnach, so Simmel, eine »Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen«.2 Daraus schließt er im Übrigen auch, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht von der Individualität der einzelnen Menschen bedroht wird. Allerdings ist mit dem zunehmenden Individualismus unbedingt auch mehr Vertrauen erforderlich. Denn wer mit den Menschen im Alltag nicht mehr notwendigerweise gemeinsame Lebenserfahrungen teilt, braucht andere Wege, die Gegenseitigkeit und Verbindlichkeit im Zusammenleben sicherstellen.

      Vertrauen ist daher nicht blind. Im Gegenteil: Es beruht auf einer Kombination von Kontrollierbarkeit und Wissen. Im Alltag sind es oft Details, die darüber entscheiden, ob wir jemandem vertrauen. Menschen, die uns äußerlich ähneln, schenken wir zum Beispiel eher unser Vertrauen. Gleiches gilt für Menschen, die wir gut aussehend finden. Beim Vertrauen in Institutionen ist es eine Mischung aus Erfahrungen, die wir gemacht haben, und aus Geschichten, die wir gehört haben. Auch Intuition spielt eine Rolle. Und so sind selbst Fakten kein Ersatz für Vertrauen. Sie steigern das eigene Urteilsvermögen nur so lange, wie man denen vertraut, die sie produzieren – seien es Verwaltung, Wissenschaft oder Medien.

      In der Ökonomie und in der Soziologie ist das Verständnis von Vertrauen als »Hypothese künftigen Verhaltens« oft entscheidungstheoretisch zugespitzt worden. Vertrauen wird als eine Wette über zukünftige Handlungen anderer gesehen. Individuen, so die Vorstellung, rechneten sich aus, wie wahrscheinlich bestimmte Handlungen anderer seien, und entschieden dann, ob sich Vertrauen lohnen könnte. Vertrauen erscheint als kalkulierende wie kalkulierbare Ressource sozialer Beziehungen.3

      Dabei ist es gerade nicht die Berechenbarkeit, die uns füreinander vertrauenswürdig macht. Vertrauen ist keine Ressource, die in uns selbst steckt und die wir einsetzen, um unseren Eigennutzen zu optimieren. Vielmehr steckt Vertrauen zwischen uns, in unseren Beziehungen. Und in diesen entscheiden wir nur in den seltensten Fällen ganz bewusst, ob wir jemandem vertrauen oder nicht. In der Regel ist Vertrauen in Alltagsroutinen eingebettet, was wir mit unserem Beispiel vom Anfang gezeigt haben: Wenn Sie morgens, ohne weiter darüber nachzudenken, vor die Tür treten, mussten Sie zwar mindestens schon Ihrem Körper, Ihrem Bett, den Menschen, mit denen Sie zusammenleben, und den Menschen auf der Straße trauen. Doch Ihre bewusste Entscheidung war das nicht. Es hat sich einfach bewährt, ist Normalität. Wird Vertrauen also explizit angesprochen, stehen Zweifel und Misstrauen oft schon im Raum. Nicht zufällig ist es für manche Politikerinnen und Politiker zum bösen Omen geworden, wenn Angela Merkel ihnen ihr »vollstes Vertrauen« aussprach: Die Tage ihrer politischen Karriere waren damit häufig gezählt.

      Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Eher bedingen sich die beiden: Vertrauen schenken kann man nur aus einer Position der Stärke, der Kontrolle und des Wissens. »Der völlig Nichtwissende«, so abermals Simmel, »kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen.«4 Es kommt also immer auf das Zusammenspiel an. Eine gewisse Kontrolle ist nötig, um vertrauen zu können. Vollständige Kontrolle aber gibt es nicht: Je mehr man kontrolliert, desto mehr muss man vertrauen. Was ist dann aber die positive Wirkung von Vertrauen? Vertrauen, so der Soziologe Niklas Luhmann, ist sich im Klaren darüber, dass es immer auch anders sein könnte.5 Dort, wo es vorhanden ist, stärkt es folglich auch die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. Es lässt sich von dieser nicht verunsichern, sondern ist offen für die unüberschaubare Vielfalt, die unvorhersehbaren Ereignisse des Lebens.

      Die positive Wirkung des Vertrauens

      Vertrauen macht das Zusammenleben daher nicht nur »flüssiger«, sondern auch toleranter. Das klingt gut, und so hat das Konzept »Vertrauen« in den letzten Jahrzehnten eine echte Karriere in den Sozialwissenschaften hingelegt. Vertrauen verspricht zweierlei herzustellen: eine starke Wirtschaft – und eine starke Gesellschaft. Im Fall des Wirtschaftens senkt Vertrauen die sogenannten Transaktionskosten. Damit bezeichnet die Ökonomie den Aufwand an Ressourcen, den man für ökonomische Handlungen wie Kaufen, Verkaufen oder Mieten einsetzen muss.

      Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Drogen so teuer sind? Das liegt zu einem guten Teil an diesen Transaktionskosten. Auf einem illegalen Markt, auf dem es keinen Staat gibt, der die Regeln bestimmt, können sich die Marktteilnehmer gegenseitig nur sehr schlecht kontrollieren. Ihnen fehlt die Handhabe. So vertraut kein Produzent dem Händler, kein Händler dem Zwischenhändler, kein Zwischenhändler dem Endkunden. Denn wenn etwas schiefgeht, kann niemand einfach die Polizei rufen, niemand auf sein Recht pochen. Damit das Geschäft unter dieser Bedingung des Misstrauens dennoch zustande kommt, muss sich das Risiko lohnen – und deshalb muss mehr für alle herausspringen. In der Ökonomie ist Vertrauen darum als »Schmiermittel« bezeichnet worden.6 Im Fall des Drogenhandels fehlt es und wird durch Geld ersetzt. Die Risikoprämien machen


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