Die Vertrauensfrage. Jutta Allmendinger
Risiko in Kauf zu nehmen, wenn ihm die Selbstständigkeit des anderen am Herzen liegt. Diese Selbstständigkeit ist das, was durch das Vertrauen wirklich werden kann.«17 Den anderen Selbstständigkeit zuzugestehen schafft demnach die Grundlage dafür, ihnen nicht als Klischees, sondern anerkennend und respektvoll zu begegnen. Anstelle moralischer Appelle zum Zusammenhalt fragen wir also nach dessen Bedingungen.
Die Wahrnehmung zu vermessen, die man von sich selbst im Unterschied zu den anderen hat, ist deswegen so wichtig, weil die Kehrseite davon Angst ist. Psychologische Theorien erklären Angst als Ergebnis ständig ablaufender subjektiver Bewertungsprozesse. Diese basieren nicht auf bloßen Fakten, nicht auf kalkulierten Risiken, wie sie die Naturwissenschaften liefern, sondern auf der eigenen Wahrnehmung, dem individuellen Wissen und den jeweiligen Motiven. Ist ein Ereignis wahrscheinlich? Ist es für mich schädlich oder gar lebensbedrohlich? Diese Fragen stellen wir Menschen uns unbewusst immer wieder.
Eine bedrohliche und potenziell schädliche Situation allein führt jedoch noch nicht unweigerlich zu einer Angstreaktion. Es kommt darauf an, wie wir mit der Gefahr umgehen. Kann sie in kontrollierbare Risiken überführt werden, gibt es keinen Grund zur Angst. Ich kann mich dann auf meine eigenen Fähigkeiten und auf die Unterstützung anderer verlassen. Ich erfahre Selbstwirksamkeit. Ein vorübergehender Zweifel, ob man in Fragen des Zusammenlebens anderer Meinung ist als die Mehrheit, muss also noch keinen gravierenden Vertrauensverlust mit sich bringen. Das gehört zu einer pluralen, sich im steten Wandel befindlichen Gesellschaft dazu. Sind gesellschaftliche Verhältnisse jedoch dauerhaft durch solche Abkopplungen bestimmt und haben sehr viele Menschen den festen Eindruck, mehr oder weniger alleine dazustehen und keine Hilfe zu finden, dann sind Misstrauen und Unsicherheit die Folge. Wir werden also fragen müssen: Wie lassen sich solche gesellschaftlichen Situationen bewältigen?
Das Vertrauen, um das es uns in diesem Buch geht, ist also relational. Es dreht sich um die gesellschaftlichen Verhältnisse von Nähe und Distanz, von Identität und Kontext, von Begrenzung und Verallgemeinerbarkeit. Wir sind Teil unserer Familie, unserer Freundeskreise, unseres Betriebs, unserer Nachbarschaft, unserer Vereine, unserer Gesellschaft. Diese vielfältigen Bezüge schaffen weder von sich aus gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, noch bedrohen sie ihn. Stattdessen müssen wir den Verbindungen zwischen den Menschen nachgehen. Wie und unter welchen Bedingungen sind die kleinen Wirs miteinander verbunden? Und reichen diese Verbindungen aus, das Vertrauen in das große Wir der Gesellschaft zu übertragen?
Misstrauen
Jutta Allmendinger
Vierhundert Männer sehr früh am Morgen. Wach, quirlig, gut aufgelegt, alle in Orange. Weitere Männer kommen hinzu: Abklatschen, Umarmen, hey Kumpel. Eine spürbare Wärme, eine Kultur des Miteinanders. Ein Männerbündnis?
Es ist sehr heiß an diesem Junitag 2018. Ich bin bei der Müllabfuhr Berlin, Werkhof Gradestraße. Seit drei Jahren sitze ich im Aufsichtsrat der Berliner Stadtreinigung, und noch immer wird in der Sparte Müllabfuhr keine einzige Frau beschäftigt. Ist die Arbeit einfach zu schwer für Frauen? Ich entschließe mich zu einem Selbstversuch.
Am Tag zuvor war ich eingewiesen worden. Nun geht es los. Ich spüre die Blicke, Verwunderung und Staunen. Die Männer grüßen, sind freundlich. Blöde Kommentare über Frauen oder mein Alter höre ich nicht. Aha, so vermute ich, alle wissen, wer ich bin, und halten sich zurück.
Punkt 6 Uhr strömen Hunderte von Männern und ich zu den Müllwagen, springen auf, fahren los, bald dann der erste Ausstieg. Vier Tonnen im Hinterhof rausholen, zum Wagen bringen, an die Hydraulik des Wagens führen, Hebel drücken, entleeren, die Tonnen zurück in das Haus. Das Schieben geht gut, einhängen kann ich gar nicht. Mirko und Christian, meine Kumpel, erklären, geben mir Tipps. Mit dem Knie nachhelfen. Bei Tonne 4 jubele ich, es passt. Wir fahren weiter.
Ich halte mich wacker. Nur die großen Behälter machen mir Probleme. Die beiden Männer helfen, sie tun das selbstverständlich und freundlich. Von Genugtuung keine Spur. Und sie loben. »Sie machen das echt gut«, sagt Mirko immer wieder. »Das darf man doch auch mal sagen, oder?«
Um 10 Uhr eine Pause. Wieder ein Werkhof mit einer Cafeteria. Während wir trinken und essen, kommen andere Kumpel, Türken, Italiener, Deutsche. Alle grüßen, setzen sich dazu. »Bist du ne Neue? Fährst du jetzt immer mit?« Jetzt wird klar, dass die allermeisten nichts über mich wissen. Christian und Mirko erklären. Sofort erwarte ich Bemerkungen in Richtung: »Ach, die ist ein Spitzel.« Falsch. Nichts davon. Auch hier kein Geglotze, keine Anmache, keine dummen Sprüche. Man unterhält sich über Tattoos und das Altern und wie schrecklich Tattoos auf Falten aussehen. Wir arbeiten weiter. Langsam werde ich Teil des Teams und freue mich, als mir Christian das »Du« anbietet, »zumindest auf der Arbeit«, fügt er hinzu. Den Respekt der beiden Männer habe ich. Und schaffe die ganze Tour. Völlig verschwitzt kehre ich mit hochrotem Gesicht zum Betriebshof zurück. Die vielen anderen Männer nehmen mich wahr, schräge Bemerkungen gibt es auch jetzt nicht.
Was habe ich gelernt? Weit mehr, als ich dachte. Ich weiß nun um die Freundlichkeit der Menschen und die Einsamkeit in der Stadt, um die Sichtbarkeit der Müllwerker und die Fähigkeiten von Frauen. Ich weiß um mein Misstrauen, meine eigenen Vorurteile. Diese Erfahrung wird bleiben.
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