Die Vertrauensfrage. Jutta Allmendinger
Man kennt das aus dem Alltag. Sie fühlen sich in einer solchen Nachbarschaft sofort wohl, auch ohne jemanden zu kennen. Sie vertrauen den Menschen auf der Straße, nicht weil Sie sie als Teil einer bestimmten Gruppe identifizieren, sondern weil die Umgebung selbst das Vertrauen ausstrahlt. Entscheidend ist hier also nicht die Identität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Es ist der Kontext, der soziale Raum.
Soziale Gleichheit
Gelegenheiten zum Kontakt allein reichen nicht, es müssen auch bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein, damit sie genutzt werden. Allen voran ist entscheidend, wie groß die sozialen Unterschiede zwischen denen sind, die in Kontakt miteinander kommen. Mit diesen Bedingungen hat sich vor allem der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschäftigt. Er fragte: Wie wirkt sich die individuelle Ausstattung mit Ressourcen wie Geld, Bildung und »Vitamin B« darauf aus, wer mit wem in Kontakt tritt? Was entscheidet am Ende darüber, wer einen bestimmten Job bekommt? Um überhaupt für ihn in Betracht gezogen zu werden, braucht man das, was Bourdieu »kulturelles Kapital« nennt – beispielsweise die richtigen Abschlüsse an den richtigen Universitäten, die richtigen Manieren. Erwirbt man diese durch Fleiß, durch Begabung oder weil die eigenen Eltern dort schon studiert haben? Und wenn wir schon dabei sind: Hilft es nicht, wenn den Eltern die Firma gehört oder sie zumindest den Chef kennen?
Bourdieu fragte sich im Grunde also, wie soziale Ungleichheit in der Gesellschaft hergestellt wird. Dabei entdeckte er vielfältige Formen, in denen das geschieht. Es ist demnach nicht allein das Geld, das ökonomische Kapital, das zählt. Daneben gibt es das schon erwähnte kulturelle Kapital, etwa die eigenen Fähigkeiten und Abschlüsse. Und eben auch soziales Kapital. Darunter versteht Bourdieu all jene Ressourcen, die sich aus dauerhaften Beziehungen, gegenseitigem Kennen und Anerkennen ergeben: »Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen«. Innerhalb der Gruppe sorgen diese Ressourcen für Sicherheit und gegenseitige »Kreditwürdigkeit«.13
Soziales Kapital fügt sich hier demnach ein in eine gesellschaftliche Struktur der Ungleichheit, die durch sich gegenseitig verstärkende Ressourcen erhalten wird. Wer viel ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital hat, profitiert entsprechend von dem Vertrauen, das im Netzwerk besteht. Innerhalb des Netzwerks erzeugt das Kapital gegenseitiges Vertrauen, das unabhängig von der jeweils bekleideten Position Loyalität garantiert. Und das auch unabhängig von spezifischen Kontexten auf alle übertragbar ist, die zur Gruppe gehören. Die einzige Frage, die zählt, ist folglich, ob jemand dazugehört – oder nicht. Bourdieu untersuchte diese Ausschlussmechanismen am Beispiel der französischen Elite, die die Frage der Zugehörigkeit oft mit einem Blick entscheiden kann. Dazu reicht es etwa schon, nicht mit bestimmten Tischmanieren vertraut zu sein. Nicht zu wissen, wie man ein Fischmesser benutzt, stellt dann diejenigen bloß, die nicht dazugehören und die folglich kein Vertrauen genießen können.
In der soziologischen Forschung werden die Netzwerke, in denen Menschen sich bewegen, und die Frage sozialer Ungleichheit erst seit wenigen Jahren konsequent zusammengedacht. Die Grundannahme ist nun nicht mehr, Armut als Eigenschaft von Personen zu sehen, sondern als eine Struktur, die den Handlungsspielraum von Menschen beschränkt. Um diesen zu erweitern, braucht es Bildung, Geld, Zeit, Selbstsicherheit. Im Falle der Armut ist all das begrenzt. Arme Kinder werden beispielsweise seltener zu Kindergeburtstagen eingeladen. Und selbst wenn, werden die damit verbundenen sozialen Verpflichtungen zum Problem: das Geld für ein Geschenk, die Gepflogenheit, eine Gegeneinladung auszusprechen. Arme Menschen, die häufig in sozial isolierenden Arbeitsverhältnissen stecken, haben zudem weniger Möglichkeiten, sich etwa gewerkschaftlich zu organisieren. Dabei wäre gerade ein solcher kollegialer Kontakt eine notwendige Bedingung dafür, an der eigenen Situation etwas ändern zu können.14
Fassen wir zusammen: Vertrauen und Kontrolle sind keine Gegensätze. Vertrauen kann nur, wer ein gewisses Maß an Kontrolle hat. Vertrauen zu schenken ist riskant. Ein Vorschuss, den man sich leisten können muss. Vertrauen erleichtert das Zusammenleben, es ermöglicht und schafft Diversität. Es wirkt auf ganz verschiedenen Ebenen. Sowohl partikular, in Teilen der Gesellschaft, als auch generalisiert, in der Allgemeinheit. Es wirkt als Ausdruck gemeinsamer Identität ebenso wie durch räumliche Kontexte. Diese positive Wirkung ist abhängig von verschiedenen Rahmenbedingungen. Zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen muss Kontakt bestehen. Es braucht Kontexte, in denen sich einander fremde Menschen begegnen können. Und es braucht ein Mindestmaß an Gleichheit, das den Kontakt auf Augenhöhe ermöglicht.
Das große Wir
Die Vertrauensbeziehungen sind nicht nur für sich genommen wichtig. Sie haben auch Auswirkungen auf die Bilder, die wir von unseren Mitmenschen haben. Wir wollen deswegen ein neues Konzept von Vertrauen vorschlagen, das die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt in den Blick nimmt: Vertrauen ist demnach das Bild, das man von sich selbst im Vergleich zu den anderen hat. Eine demokratische Gesellschaft beruht nicht darauf, dass alle das Gleiche denken, das Gleiche wissen, die gleichen Normen haben. Im Gegenteil, sie beruht auf Vielfalt. Für eine Demokratie, die von der Teilhabe aller lebt, braucht es aber ein gemeinsames Verständnis von den Bezugspunkten des Zusammenlebens, das heißt davon, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln soll und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das gelingen kann. Die Frage ist dabei nicht allein, ob solche Bezugspunkte tatsächlich vorhanden sind, sondern auch, ob man den Eindruck hat, dass das so ist.
So klingt das noch sehr abstrakt. Wir müssen uns also konkret anschauen, welches Bild die Menschen in Deutschland von ihren Mitmenschen haben. In der Vermächtnisstudie haben wir dieses Verhältnis so einfach abgefragt, wie es nur geht. Zuerst fragten wir nach der eigenen Einstellung, dem eigenen Verhalten. Beispielsweise: »Wie wichtig ist Ihnen ein Wir-Gefühl?« Und dann nach den vermeintlichen Einstellungen der anderen: »Wie wichtig ist das den Menschen in Deutschland?«15
Die jeweilige Antwort auf diese Fragen ist keine objektive Bestimmung, kann es auch nicht sein. Sie ergibt sich vielmehr aus einer Vielfalt einzelner Informationen: eigenen Erfahrungen, dem Kontakt in der Familie, zu Freunden und Kollegen, Beobachtungen in der Öffentlichkeit, auf der Straße. Und schließlich Berichten in den Medien. Aus alldem machen wir uns ein Bild von der Welt und von unseren Mitmenschen, von der Gesellschaft, in der wir leben. Und im Verhältnis dazu bestimmen wir immer auch unsere eigene Position. Weltbezug und Selbstbezug, Weltbild und Selbstbild sind dabei nie ganz stabil, sondern befinden sich in der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung permanent im Wandel.16 Wo die Selbstverständlichkeit von Lebensorientierungen verloren geht, tun sich Vertrauensfragen auf. Ist die Mehrheit vertrauenswürdig darin, dass sie ähnlich denkt und handelt wie ich? Oder geht sie in eine ganz andere Richtung als man selbst? Ja, kann man sich in dem Fall selbst überhaupt noch zur Gesellschaft zählen? Empfindet man sich als Außenseiter? Was hier letztlich verhandelt wird, verstehen wir als das große Wir, also ob sich eine Gesellschaft auch als solche empfindet oder ob sie aus lauter gefühlten Einzelgängern besteht, die ihr eigenes Verhalten im Kontrast zu dem der anderen verstehen.
Schauen wir in unsere Daten, sieht das Bild je nach Thema ganz unterschiedlich aus. Es gibt viele gemeinsame Überzeugungen davon, wie das Zusammenleben gestaltet sein sollte. Wir können dementsprechend keinen allgemeinen Verlust an Vertrauen in das große Wir feststellen, der sich über alle Bereiche des Lebens erstreckt. Vieles ist nicht nur für einen selbst selbstverständlich, man nimmt es auch bei anderen als selbstverständlich wahr. Bei manchen Themen stoßen wir jedoch auf signifikante Unterschiede zwischen dem, was die Menschen über sich und über die Mitmenschen sagen: bei den Fragen zum Zusammenleben in der Familie und zur Erwerbsarbeit sowie bei den Fragen nach gesellschaftlicher Innovationsfähigkeit und Solidarität. Bei diesen Themen sind sich von außen gesehen zwar alle relativ einig, wenn sie über sich selbst reden. Sobald sie aber über die anderen sprechen, gehen sie davon aus, diese sähen es ganz anders als sie selbst. Hier findet eine Entkopplung der Bilder statt, die man von sich selbst und von der Gesellschaft hat.
Unsere Konzeption von Vertrauen holt das Problem gesellschaftlichen Zusammenhalts also auf eine andere Ebene. Als Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt identifizieren wir nicht eine besondere gefühlsbetonte Haltung gegenüber anderen, sondern eine Beziehung, die auf Vertrauen beruht. Der Philosoph Martin Hartmann hat in diesem Sinne Vertrauen als Bedingung für kooperatives Handeln überhaupt gekennzeichnet.