Was Luther angerichtet hat. Bernd Rill
das gesamte weitere 15. Jahrhundert beständig fortbrodelnder Unmut, der dann den Erfolg der Reformation Luthers nicht unwesentlich begünstigte.
Und je mehr der Papst seinen nach den Wirren des Schismas quasi neu gebildeten Kirchenstaat in der Mitte Italiens als eine der weltlichen Mächte auf dieser Halbinsel verstand, desto mehr geriet er wieder in den Bannkreis der großen Politik, wie ehedem. Desto mehr war er auch an seiner Einflussnahme im Heiligen Römischen Reich interessiert, die seine Kontrolle über die Besetzung der geistlichen Fürstentümer einschloss, einer Herrschaftsform, die es innerhalb der abendländischen Christenheit so nur mit dem Mittelpunkt in Rom und eben in Deutschland gab. Das oppositionelle (und weitgehend erfolglose) Ergebnis waren die „gravamina (Beschwernisse) der deutschen Nation“, wie sie ab dem Frankfurter Reichstag von 1456 immer wieder vorgebracht wurden, auch von den geistlichen Fürsten und den Freien Reichsstädten. Nicht nur willkürliche Eingriffe in geistliche Stellenbesetzungen, auch finanzielle Zumutungen und Anmaßung geistlicher Gerichtsbarkeit in an sich weltlichen Angelegenheiten standen dauernd auf der Agenda. Da wehrte sich der allmählich entstehende, neuzeitliche Territorialstaat gegen Störungen seiner Konsolidierung durch eine Macht, die für sich Überordnung in Anspruch nahm. War partikularer fürstlicher Egoismus im Spiel, so fehlte es bei den gravamina auch nicht an nationalen Untertönen, wenn die auch bei Weitem noch nicht die ideologische Exklusivität im Stile des 19. Jahrhunderts für sich in Anspruch nahmen. Auch das wurde zum Treibsatz für den Erfolg der Reformation.
Dieser stand auf zwei Säulen: der politischen ebenso wie der religiösen. Die Persönlichkeit Luthers, den man zu den religiösen Genies zählen muss, stand für die außer – oder wenn man so will: überpolitische Wirksamkeit der Reformation. Aber auch die allgemeine Entwicklung des Geisteslebens der lateinischen Christenheit gehörte dazu, das, sofern es der Autorität des römischen Pontifex über die Geister und Gemüter abträglich war, sogar über das eigentliche Glaubensleben hinausging. Zwei Stichworte drängen sich hier auf: Renaissance und Humanismus.
Die Renaissance war ein großartiger kulturgeschichtlicher Aufbruch, der die Tendenz hatte, die geistige Alleinherrschaft der mittelalterlichen Kirche nachhaltig infrage zu stellen. Bekanntlich ist die Renaissance durch die Wiederbelebung der geistigen Schätze der klassischen Antike gekennzeichnet, die nicht christlich, sondern heidnisch geprägt gewesen war. Deshalb haben die Liebhaber der Antike aber das Christentum nicht in kulturrevolutionärer Unbedingtheit schlechthin verworfen. Die „Platonische Akademie“, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Florenz als ein Gesprächskreis von Intellektuellen entstanden ist, verfolgte das hehre Ziel, die Lehren des Christentums mit denen der antiken Philosophie zu amalgamieren. Platon mit seiner Lehre vom ewigen Reich der Ideen, die sich auf Erden materialisieren, konnte dafür als Referenz verwendet werden.
Es wäre niemandem eingefallen, sich schlankweg als Atheisten zu bezeichnen. Sofern man in Glaubensdingen überhaupt nach letzter Klarheit strebte, kam allenfalls ein Deismus (Gott hat die Welt geschaffen, greift aber nicht mehr in sie ein) oder Theismus (Gott kann doch noch in die Welt eingreifen) zustande. Jedenfalls traten in solcher Sicht die verbindlichen kirchlichen Lehren von Erbsünde und Erlösung in den Hintergrund.
Es war gewissermaßen auch die Geburtsstunde des Historismus, für den dann im 19. Jahrhundert alle Zeitalter ihre besondere Würde haben und keines das andere im Sinne eines Fortschrittes der Erkenntnis oder einer spezifischen Heilsgeschichte übertrifft. Leopold von Ranke hat dies christlich akzentuiert, indem er (dem Sinne nach) befand, alle Zeitalter seien zu Gott hin gerichtet. Aber genau zu dem, für den die Kirche als Verwalterin seiner Offenbarung verpflichtend aufrief, zu eben dem nicht mehr.
Joseph Lortz in seiner „Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung“ fasst nicht ohne Tadel zusammen: „Man sucht eine freiere, schönere, harmonischere Menschheit. Das Konzept der Freiheit und der Rechte des Menschen, das, wenn auch mitunter zurückgedrängt, in der einen oder anderen Form die Entwicklung des Menschen in der modernen Zeit begleitet, steht klar am Anfang seiner Entwicklung. Diese freiere Haltung hatte bedeutende Folgen für den religiösen Bereich. Der Wert der Wahrheit, die bedingungslos verpflichtend ist, verlor seine Anziehungskraft. Zum Nachteil des Glaubens wurde die Freiheit überbewertet. So begann und nährte sich jene einseitige Auffassung, die bis heute die Renaissance als eine Periode der Freiheit betrachtet, die aber leider unterbrochen wurde von Reformation und Gegenreformation.“
Der letzte Satz läuft der Chronologie unserer Darstellung voraus, indem er auf den Aphorismus Nr. 237 aus Nietzsches Werk „Menschliches, Allzumenschliches – ein Werk für freie Geister“ (1878) verweist: „Dagegen [gegen die säkularisierende Wirkung der Renaissance, Anm. d. Verf.] hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten.“ Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heißt ein katholisches Christentum der Notwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes, und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten.
Geschichtliche Phänomene in die Perspektive eines Fortschrittes einzuspannen, den man vorab selbst definiert hat, das dient der übersichtlichen Gliederung eines Textes, aber nicht unbedingt der tieferen Einsicht in diese Phänomene. Den unbestreitbaren moralischen Sumpf diverser Renaissance-Päpste (man denke nur kurz an die Verbrechen der Borgia, den eher martialischen als seelsorgerischen Julius II. und den verschwenderischen Genussmenschen Leo X.) zum Ende der mittelalterlichen Vorurteile namens Religion hochleben zu lassen, das mag in Nietzsches Linie gelegen haben, wird aber dem fortlebenden, vitalen Bedürfnis nach Religion, das die Menschen dies- und jenseits der Alpen durchaus noch hatten, nicht gerecht. „Kirche“ war in diesem Lichte nur der äußere, formale Ausdruck für ein großes geistliches Bedürfnis, das in dieser Institution, die es das Mittelalter hindurch hervorgerufen und den Menschen eingepflanzt hatte, nunmehr zu wenig an Heimstatt fand.
Ein deutliches Zeichen dafür ist das unglaubliche Wirken des Girolamo Savonarola von 1494 bis 1498 in Florenz. Er war dort Prior des Dominikanerklosters und wurde bekannt als feuriger Bußprediger. Deren hatte es im Italien des 15. Jahrhunderts viele gegeben, genannt seien hier nur Bernardino da Siena und Giovanni da Capestrano, der europaweit wirkte. Doch Savonarola übertraf alle an Wirkmächtigkeit, wenn auch nur für kurze Zeit. Seine Beredsamkeit, die vor apokalyptischem Hintergrund zu Buße und Askese aufrief, konnte im damaligen Florenz, das der Herrschaft der Medici entglitten war, mit entsprechend wachsenden Bestrebungen zur Errichtung einer Volksherrschaft, einen Sturm der populären Begeisterung auslösen.
Das weltliche Renaissance-Wesen mit seinen freieren Sitten, mit seinem Kult der schönen Künste, fiel in der Stadt, die gerne als die geistige Hauptstadt von ganz Renaissance-Italien bezeichnet wird, in Misskredit. Es wurden Scheiterhaufen errichtet, auf denen allerlei herbeigeschleppte Gegenstände des Lebensgenusses verbrannt wurden, z. B. Karnevalsmasken, Spielkarten, Parfümfläschchen und Musikinstrumente, ebenso Gemälde, wo Frauen unter mythischen oder historischen Vorwänden freizügig abgebildet waren. Denn Savonarola als eingefleischter Mönch hielt alles für überflüssig, was nicht dem Seelenheil diente. Der Herzog von Ferrara, woher Savonarola stammte, hielt es für angebracht, bei sich zu Hause ebenfalls eine strenge Reinigung der Sitten anzuordnen.
Ob der Mönch ausgerechnet aus Florenz eine stramme Theokratie hätte machen können, wie es später Jean Calvin in Genf unternahm, ist sehr wohl fraglich. Aber der, wenn auch nur kurzfristige, Erfolg seines Wirkens (1498 wurde er als Ketzer hingerichtet) zeigte, dass auch in Italien, dessen religiöses Leben so oft der Oberflächlichkeit und des puren Formalismus bezichtigt wurde (und von frommen Fremden immer noch wird), eine Substanz vorhanden war, die aktiviert werden konnte, sobald sich erst in der Kirche der Wille durchgesetzt hatte, den Kampf mit der Reformation auch geistlich aufzunehmen.
Savonarola kann in großer Gesamtschau als ein Vorläufer der Reformation gelten. Denn er hatte natürlich auch gegen den moralischen Verfall der Kirche und gegen deren Verweltlichung gewettert, sowie gegen die Oberherrschaft des Papstes überhaupt. Als er von Alexander VI. (1492 – 1503) exkommuniziert worden war, appellierte er an das Urteil Gottes selbst, das war noch radikaler