Was Luther angerichtet hat. Bernd Rill
bringen können.
Wenige Tage nach Karls Wahl, am 4. Juli, disputierte Luther öffentlich in Leipzig mit dem katholischen Theologen Johann Eck über das damals heikelste der kirchenpolitischen Themen: ob der Primat des Papstes aus der Bibel („Du bist Petrus, der Fels …“) hergeleitet werden könne oder ob er spätere menschliche Erfindung sei. Luther negierte die biblische Herleitung und sagte weiter: Die griechische Kirche und deren Kirchenväter, etwa Gregor von Nazianz und Basilius der Große, wüssten nichts vom Primat des Papstes, seien aber niemals zu Ketzern erklärt worden. Eck konterte: Der Primat sei auch von Wiclif und Hus geleugnet, von den Päpsten und den allgemeinen Konzilien, die doch vom Heiligen Geist erleuchtet seien, aber bekräftigt worden. Luther: Unter den Artikeln des Hus, die in Konstanz verdammt worden seien, gebe es auch einige unbedenkliche. Das ärgerte auch den streng katholisch gesonnenen Herzog Georg von der albertinischen Linie der Wettiner (Kurfürst Friedrich gehörte der ernestinischen Linie an), auf dessen Territorium sich Leipzig befand. Luther fragte sogar rhetorisch, womit man beweisen wolle, dass ein Konzil nicht irren könne. Dann durfte er allerdings auch nicht gegen den Papst an ein Konzil appellieren, wie er es nach dem Gespräch mit Kardinal Cajetan verkündet hatte; die hierarchischen Autoritäten waren für ihn abgetan.
Am 16. Juni 1520 erging daraufhin die päpstliche Bannbulle gegen ihn. 41 seiner Sätze wurden darin inkriminiert, falls er nicht innerhalb von 60 Tagen widerrufe, solle die weltliche Gewalt, die seiner habhaft würde, ihn nach Rom ausliefern. Doch die Universität von Wittenberg beschloss, die Bulle nicht zu veröffentlichen, und Kurfürst Friedrich lehnte sie ebenfalls ab.
Im Juni 1520, während in Rom die Bulle erging, hatte Luther seine Abhandlung „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ verfasst, Erstauflage 4000 Exemplare, für damalige Verhältnisse sehr hoch, nach zwei Wochen schon vergriffen. Der Inhalt war revolutionär: Alle Christen seien zum Priesteramt berufen, also nicht nur Schluss mit dem Sakrament der Priesterweihe, sondern generelle Aufhebung der Trennung zwischen Klerus und Laien, dem Lebensgesetz der Amtskirche. Alle waren aufgefordert, „des christlichen Standes Besserung“ in die Hand zu nehmen. Die Christen seien der Obrigkeit unterworfen, die zu ihrer (wegen der Erbsünde erforderlichen) Bändigung das Schwert führe. Die Institution des Papsttums darf mit beschränkten Kompetenzen, also ohne Primat und auch ohne Superiorität über das Kaisertum, bestehen bleiben. Landeskirchen sind zu bilden, die niederen Geistlichen sollen heiraten dürfen. Damit waren die weltlichen Instanzen des Reiches aufgerufen, die Sache Luthers in ihre Hand zu nehmen. So deutete sich bereits 1520 die enge Verbindung zwischen evangelischer Kirche und Staatsgewalt an.
Zweiter publizistischer Schlag, auf Lateinisch, Oktober 1520: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, ein Angriff auf die kirchliche Lehre von den sieben Sakramenten, wobei nur die Taufe, die Buße und die Eucharistie (Abendmahl) übrigblieben, denn nur die seien aus der Heiligen Schrift heraus zu begründen. Nachdem Papst und Konzil nicht mehr als Autoritäten galten, blieb nur noch die Bibel als Quelle der Wahrheit übrig. Diese Art von Zurückgehen „ad fontes“ wurde zu einem starken Appell an religiöse Ernsthaftigkeit.
Dritte Schrift aus demselben Jahr: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, mit der bekannten typisch lutherisch-wirkungsvollen Formulierung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Das bezeichnet eine Trennung des Lebens des Leibes von der Seele und ist daher ein Haupttext der spezifisch deutschen Kultur der Innerlichkeit (der Seele), die die Äußerlichkeit (den „Leib“, das Leben) gering achtet, weil es zum Seelenheil (sola fide!) auf die Innerlichkeit ankommt. Solche inwendige Religiosität hatte es im späten Mittelalter, angeregt von den großen Mystikern deutscher Zunge, prononciert gegeben: Man fasste sie unter dem Begriff der devotio moderna zusammen, der Gläubige huldigten, die mit der Welt in größtmöglichem Frieden leben wollten, um ihrem Lebensideal zu folgen: der Nachahmung und Nachfolge des sanftmütigen Christus. Dazu brauchten sie keine Papstkirche, und Luther hatte Sympathien für ihre Denkweise. Alle drei seiner Schriften bahnten den Weg für die weitere Entfaltung des Luthertums: den politisch-organisatorischen, den theologischen und – sagen wir – den mentalitären.
Mit Rom war auch auf diese Weise endgültig gebrochen. Am Morgen des 10. Dezember 1520 verbrannte Luther auf dem Schindanger vor den Toren von Wittenberg, nachdem die in der Bulle gesetzte Frist von 60 Tagen schon abgelaufen war, eben diese Bulle und päpstliche Dekretalen, Rechtsetzungen, die in Buchform zusammengefasst waren. Am nächsten Tag soll Luther gesagt haben: „Hoch vonnöten wäre es, dass der Papst, d. i. der Römische Stuhl samt allen seinen Lehren und Gräueln, verbrannt würde.“
Es war nun so viel von Luther die Rede, dass die Frage auftauchen mag: Wird hier nicht an einer Heldenlegende der Geistesgeschichte gewoben, nach dem Motto, dass Männer (was einzelne Frauen nicht ausschließen muss) die Geschichte machen? Der reißende Strom, in den sich die reformatorische Bewegung nach 1518 steigerte, ist in der Tat ohne Luther, dessen auch in der Öffentlichkeit wirksame Charakterstärke und konsequente Unbedingtheit, auch ohne dessen stilistisches Talent nicht denkbar. Er ist aber ebenso undenkbar ohne den, in zusammenfassender Verkürzung gesagt, gegen Rom oppositionellen Untergrund der Zeit in Deutschland, sowie ohne die gerade herrschende politische Konjunktur, und auch nicht ohne den neuartigen Buchdruck. Der Genius hatte seine Zeit gefunden, die Zeit ihren Genius. Siehe auch Goethe, Faust II, 1. Akt, Mephistopheles in der kaiserlichen Pfalz: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein …“
Kapitel zwei:
Die Reformation behauptet sich
Kaiser Karl V.
Da Luther nicht widerrufen hatte, wurde er am 3. Januar 1521 exkommuniziert. Kurfürst Friedrich hielt aber weiter zu ihm und setzte sich für ihn auch bei Karl V. ein, dem frisch erwählten „Römischen Kaiser“, wie dieser sich nannte. Am 27. Januar 1521 wurde zu Worms des Kaisers erster Reichstag eröffnet. Karl besaß das Königreich Spanien, das Königreich Neapel und die gesamte habsburgische Erbschaft im Reichsverband: die Niederlande, Luxemburg, die Freigrafschaft Burgund, Länder am Oberrhein und rund um Basel, Tirol, Ober- und Niederösterreich, Steiermark, Kärnten und Krain. Er sprach nur Spanisch und Französisch, Deutsch nicht. Die Erwartungen an ihn waren schier unermesslich. In Spanien wurde er als direkter Nachfolger des politischen Urvaters der abendländischen Christenheit, Karls des Großen, begrüßt. Er würde die westliche und östliche Christenheit wieder vereinigen, damit sich das Wort des Johannes-Evangeliums (10,16) erfülle: „[…] und wird eine Herde und ein Hirte werden“. Sein Mentor und Großkanzler Mercurino Gattinara suggerierte ihm, er habe den Auftrag zur Weltherrschaft, und wies ihm gar die Rolle des Kaisers der Endzeit zu, wie sie in apokalyptischen Visionen des Mittelalters vorgesehen war. Der Tag der Reichstagseröffnung galt als der Todestag Karls des Großen (der starb aber genau am 28. Januar 814).
Was als ein Nachklang des mittelalterlichen Universalismus daherkam, hatte tatsächlich durch die unerhörte Machtansammlung des Hauses Habsburg, die die letzten Jahrzehnte gesehen hatten, eine gewisse neue, materiell unterstützte Plausibilität gewonnen. Außerdem wurden gerade große Teile der von Kolumbus ab 1492 entdeckten „Neuen Welt“ der spanischen Krone unterworfen, mit einem ungeheuren Ertrag an Silber und Gold, der in die europäische Politik investiert werden konnte.
Wir wissen jedoch, dass gerade die Herrschaft Karls V. (bis 1556) das Auseinanderbrechen der westlichen Christenheit brachte. Des Kaisers Bestreben musste es lebenslang sein, dies zu verhindern, denn eine universale Herrschaft brauchte nach damaligem Verständnis eine universale Glaubenseinheit, da die Autoritäten von Kaiser und Papst seit Karl dem Großen eng aufeinander bezogen waren. Die Kaiserwürde war auch eine sakrale Größe. Karl V. hat sich der Sicherung der Glaubenseinheit im Abendland mit großem Bemühen gewidmet, teils politisch taktierend, teils in kriegerischer Aggressivität. Dass er am Ende scheiterte, lag nicht nur an der unbezwingbaren Glaubensstärke der sich immer mehr entfaltenden evangelischen Welt, sondern auch an den vielen Konflikten, die er sich eben dadurch zuzog, dass seine Herrschaftsinteressen fast ganz Europa, das Mittelmeer und den Atlantik umfassten.
Die evangelisch gewordenen Reichsfürsten waren die eine Potenz,