Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky
zerstören. Geteilter Schmerz – halber Schmerz!
14. Kapitel
Tagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.
Anhand aufgefundener Fragmente vom Autor rekonstruiert.
Es war ein bitterer Frühling für mich, denn während ich die Tage grübelnd und die Nächte schlaflos verbrachte, genoss Ziegenhals die Stunden, die er mir verdankte, in Bars und Betten. Manche Konstellationen gibt es im Leben eines Menschen nur einmal – und ich hatte meine Sternstunde ungenutzt verstreichen lassen. Was sollte er nun befürchten, wo sich meine Schwächen so eklatant gezeigt hatten? Meine Feigheit war eine immer währende Garantie für seinen Wohlstand und sein Glück. Der Letzte der Kolczyks war nur noch eine lächerliche Karikatur seiner ruhmreichen Väter, er hatte zu viel Ehrfurcht vor dem Leben internalisiert, er hatte nicht töten können.
Diese Erkenntnis meiner fortgeschrittenen sittlichen Reife erfreute mich nicht im Mindesten, im Gegenteil, ich empfand den Sieg über mich selbst als Schande. Möglicherweise wäre es anders gewesen, wenn ich Freunde gehabt hätte und ihre Bewunderung. Aber innere Größe wird wohl immer dann zum Fluch, wenn sie von der Umwelt unbestätigt bleibt. Möglicherweise wäre alles anders gekommen, wenn Ziegenhals in diesem Mai mit mir gesprochen hätte, offen und unter vier Augen, denn in dieser Zeit war ich durchaus zur Aussöhnung bereit. Vielleicht wartete ich nur auf diesen Augenblick. Ich wollte keine Unterwerfung, nein, ich brauchte ihn nur als Spiegel, um mich selbst zu erkennen und mit mir zufrieden zu sein. Doch er kam nicht, und wenn wir uns sahen, dann wuchsen stets gläserne Wände zwischen uns auf.
Vielleicht ist es mir nie ganz gelungen, zu den tiefsten Schichten meines Wesens vorzudringen, aber so ratlos wie nach dem gescheiterten Mordversuch war ich nie zuvor gewesen. Warum nur war ich, kurz nachdem ich die Gashähne in der kleinen Küche geöffnet hatte, zur nächsten Telefonzelle gehetzt, um Ziegenhals zu wecken und zu retten? Gegen meinen Willen hatte ich das getan, gegen meinen Verstand. Was hatte mich dazu getrieben, das war und ist für mich die Frage. Angst vor der Entdeckung, Angst vor dem Gerichtsurteil und lebenslangem Zuchthaus – sie konnten es nicht gewesen sein, denn an jenem Tag war ich hundertprozentig überzeugt gewesen, den perfekten Mord begehen zu können. Auch an die Wirksamkeit christlicher Maximen wollte ich nicht so recht glauben, hatte ich doch seit etwa dreißig Jahren keine Kirche mehr betreten. Was natürlich nicht ausschloss, dass Werte, die man mir als Kind vermittelt hatte, noch immer wirksam waren. Dann durften es also verschwommene moralphilosophische Faktoren gewesen sein, die mein Handeln bestimmt hatten, und Ziegenhals konnte sich bei der Gesellschaft schlechthin bedanken, dass sie dem Bürger Kolczyk den Sinn fürs Gute vermittelt hatte. Aber er bedankte sich ja nicht bei ihr, im Gegenteil, er warf den eifrigsten Verfechtern bürgerlicher Sittlichkeit die Scheiben ein und beschimpfte sie. Aber Ironie beiseite, vielleicht liebte ich Ziegenhals insgeheim, vielleicht hatte ich mir immer einen Sohn gewünscht, der so skrupellos wie er ein hoch gestecktes Ziel verfolgen konnte, vielleicht gewann mein Leben erst durch ihn den letzten Sinn.
Doch das ist Spekulation, nichts als Spekulation. Die Wirklichkeit sah anders aus, und ich hatte mich mit seiner Existenz und der lebenslangen Erpressung ebenso abzufinden wie ein Soldat – dem man einen Arm amputiert hatte – mit seinem Schicksal. Vielleicht gelang es mir, meine Aggressionen an einem Ersatzobjekt abzureagieren, möglicherweise an Reinhild, die ihn ja vergötterte, und den Rest der aufgestauten Energie zu sublimieren, indem ich neue Bücher schrieb.
Höchstwahrscheinlich hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt mit meiner Machtlosigkeit abgefunden, wenn ich nicht eines Nachmittags durch eine kurze Bemerkung von Seiten Reinhilds wieder wachgerüttelt worden wäre.
„Du, heute Morgen hat jemand angerufen und nach der Adresse von Bernd ... von Ziegenhals gefragt ...“
„Und ...?“ Ich las gerade im neuen Spiegel und ließ mich nicht weiter stören. „Hast du ihm gesagt, wo er wohnt?“
„Ja – aber der Kerl hatte so eine unangenehme Stimme. Wie ein Ganove aus dem Film.“ Sie schüttelte sich.
Ich zuckte zusammen, verbarg aber mein Erschrecken und entgegnete ironisch: „Woher sollte ein so guter Mensch wie Ziegenhals einen Ganoven kennen ...?“
„Fängst du schon wieder an!“ Sie lief auf den Korridor hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
Aber ihre Bemerkung hatte mich mehr erregt, als ich mir selber eingestehen wollte. Prompt krampften sich meine Gedärme zusammen, und ich musste auf die Toilette eilen. Schwindel packte mich, und ein, zwei Minuten lang lehnte ich kraftlos an den lindgrünen Kacheln. Dann ging es wieder.
Man war also an einer Kontaktaufnahme mit Ziegenhals interessiert, und die Tatsache, dass man seine Adresse noch nicht gekannt hatte, ließ auf einen alten Bekannten aus seiner Zeit in der Naunynstraße schließen. Opa Melzer war überfahren und schwer verletzt worden, das hatte ich in der Zeitung gelesen, und es lag nun auf der Hand, dass der alte Mann einige seiner Geheimnisse preisgab und dem guten Rannow weiterhalf. Dass Ziegenhals der Mörder des Mädchens war, mochte ich nicht so recht glauben, viel wahrscheinlicher schien mir, dass er den wirklichen Täter kannte. Für mich war es ziemlich sicher, dass der Mörder aus der Gegend um die Heiße Ecke stammte.
Meine Lust zum Widerstand und zum Kämpfen flammte augenblicklich wieder auf, und ich suchte nach einer neuen Strategie, mit der sich vielleicht gewisse begrenzte Ziele erreichen ließen. Wohl konnte ich Ziegenhals kaum mehr daran hindern, mich bis ans Ende meiner oder seiner Tage zu erpressen, möglicherweise aber konnte ich meine Tochter noch vor einer Ehe mit ihm bewahren. Irgendwie musste es doch möglich sein, ihm einen Strick zu drehen und ein paar Jahre Tegel zu verschaffen! In diesem Fall war ich sicher, dass Ginny sich von ihm lossagen würde. Wenn er erst einmal einsaß, dann arbeitete die Zeit für mich: Sie wurde älter, lernte andere Männer kennen und ersparte mir vielleicht das Schicksal, sein Schwiegervater zu werden. Es musste doch gelingen, ihm einige kriminelle Taten nachzuweisen oder gar als Mitwisser in den Mordfall Miezi zu verwickeln!
Nervös lief ich im Zimmer umher und entwickelte meine Pläne. Wenn ich ihn schon nicht mit den Händen zur Strecke bringen konnte, dann wenigstens mit dem Kopf! Es musste sich doch eine Falle konstruieren lassen, deren Mechanismus er nicht durchschauen, deren Köder er nicht erkennen konnte!
Ich war sicher, dass ich es schaffen würde, nur musste ich erst einmal selber wissen, wer Miezis Mörder war. Und da ich schon einen Ansatzpunkt hatte, machte ich mich noch am späten Nachmittag auf den Weg. Wie heißt es doch bei Geibel: Und viel vermag, wer überraschend wagt!
Doch ich erreichte mein erstes Ziel, die Heiße Ecke, nicht so schnell, wie ich erhofft hatte; in unmittelbarer Nähe meiner Villa lief mir Johnny Cloward über den Weg. Er hatte einen großen Koffer bei sich und machte einen ziemlich ramponierten Eindruck. Sein rechtes Auge hatte sich nahezu geschlossen, eine tiefblaue Beule, in Berlin „Veilchen“ genannt, zierte sein klassisches Gesicht.
„Hallo, Johnny, wo kommst du denn her?“
„Frag mich lieber, wo ich hin will“, stöhnte Cloward. „Ich weiß es nämlich selber nicht – vielleicht fällt’s mir dann ein.“
„Was denn, ist ein empörter Vater hinter dir her?“, lachte ich.
„Nein, so schlimm ist’s nun auch wieder nicht.“ Er setzte den Koffer ab und lehnte sich gegen den Zaun. „Ich hatte nur eine kleine Auseinandersetzung mit deinem Freund und Schüler Bernd Ziegenhals ...“