Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky
schwarze Lettern. Ich freute mich unbändig. In diesem Buch steckten drei Jahre harter Arbeit. Alles sprach dafür, dass es ein soziologischer Bestseller werden würde. Ich sah sie alle, Scharen von Professoren und Studenten in allen Ländern der Erde, wie sie meine Thesen diskutierten, wie sie mich zu verstehen suchten.
Kolczyk, Kolczyk, Kolczyk! Auf den nächsten Weltkongressen für Soziologie würden sie meinen Namen flüstern, mir nachblicken, das Gespräch mit mir suchen. Mehr noch als bisher. All die Götter unserer Wissenschaft, angefangen bei Talcott Parsons. Ein Ruf, ein attraktiver Lehrstuhl war mir sicher. Ich war süchtig, süchtig danach, groß und außergewöhnlich zu sein und die Welt zu verändern. Das klingt alles so banal, so stümperhaft formuliert, aber ich schreibe ja kein Buch, um der Prophet für die Millionen Suchender zu werden, sondern kritzle ein paar Hundert schäbiger Blätter voll, um für mich selber Bilanz zu ziehen.
Kurzum, in dem Augenblick, wo ich dieses Buch aus dem Packpapier schälte, war ich glücklich. Vergangenheit und Zukunft waren voll nie gekannter Harmonie. Die Weichen waren gestellt, wie man so schön zu sagen pflegt. Mit dieser Veröffentlichung musste ich in die erste Reihe der Kronprinzen rücken, musste ich schlechthin die Zukunft meiner Partei werden. Endlich haben wir einen Politiker entdeckt, der uns einen klaren und hoffnungsvollen Weg in das einundzwanzigste Jahrhundert weisen kann! Ich war sicher, dass Bonn mich schon erwartete. Ein Intellektueller mit Charme, mit Popularität, mit Charisma, mit einem ausgeprägten Sinn für Stabilität und Integration und dennoch voll neuer Ideen – das war garantiert die richtige Mischung. Und Freunde hatte ich genug.
Ich ließ Beatchen eine kleine Flasche Sekt aufmachen, sie konnte es so gut, trank mit ihr zwei Gläser und küsste sie dann. Sie ließ mich wieder jung werden, ließ mich jubeln, und beinahe war mein Triumph so total wie damals 1939, als ich meinen ersten Hundert-Meter-Lauf gewonnen hatte und zum Helden der Schule avanciert war.
Immer wieder frage ich mich, welchen Sinn es denn hat, dies alles niederzuschreiben. Wen interessiert es schon? In jeder Sekunde vollenden sich auf diesem Planeten Millionen von Schicksalen – wenn man die alle registrieren wollte! Aber ich schreibe weiter, schreibe, ohne es vielleicht zu wollen, gehorche unbekannten Mechanismen.
Doch zurück zu diesem Oktobertag, an dem sich das erfüllen sollte, was offenbar schon lange in meinem Leben beschlossen lag.
Ich musste mich von Beatchen lösen, musste ihren warmen Körper zurückstoßen, musste die Nirwana Wolke aus kostbaren Hölzern, Chypre, Jasmin und Rosen verlassen, weil es klopfte.
Das ist alles so kitschig, ja, aber soll ich die Wirklichkeit nur deswegen verfälschen, weil sie kitschig ist? Soll ich mich nur deswegen belügen, weil die Wahrheit einer Lüge gleicht? Nein.
In der Tür stand ein untersetzter, aber keineswegs bulliger oder dicklicher junger Mann, den ich im ersten Augenblick recht sympathisch fand. Fr trug einen grauen Anzug, der vor fünf Jahren bei Müller-Wipperfürth oder C & A kaum mehr als hundert Mark gekostet haben konnte, einen leichten Rollkragenpullover und ein Paar ausgetretene schwarze Schuhe. Er lächelte so schüchtern wie ein Lehrling, der mit der attraktiven Frau des Chefs allein im Salon geblieben ist. Zum Friseur hätte er auch mal gehen können. Ich hielt ihn für einen mädchenlosen, möglicherweise homoerotischen Jüngling, der elegische und unverkäufliche Gedichte schrieb und womöglich einer Sekte angehörte, die sich der Errettung des Geistigen und des Harmonischen im Menschen verschrieben hatte. Aber irgendwie mag ich solche Leute. Wahrscheinlich deswegen, weil ich mir in ihrer Nähe immer männlich, erfolgreich, weise und überlegen vorkomme.
„Ist denn jetzt Sprechstunde?“, fragte ich Beate.
„Mal sehen ...“ Sie ordnete ihre frisch gebleichten Haare, blinzelte dem jungen Mann aufmunternd zu und studierte dann die am Schrank hängende Liste, in der die Sprechstunden aller am Institut beschäftigten Dozenten und Assistenten eingetragen waren. „Hm ... Der Raum drüben ist frei ...“
Wir gingen hinüber in das kleine Sprechzimmer, dessen blassgraue Wände durch zwei glasbedeckte Miró-Drucke verschönt wurden. Ein karger Raum, der irgendwie an eine Theaterkulisse erinnerte. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch, wohl wissend, dass ich mir damit schon eine gewisse Überlegenheit verschaffte, während mein Besucher, der bisher außer einem mehr gehauchten guten Morgen noch nichts gesagt hatte, mir gegenüber in einem lila bezogenen Sessel Platz nahm. Er schlug die Beine übereinander, und ich konnte deutlich sehen, wie unter seiner rechten Schuhsohle ein großer Flatschen lehmgelben Hundekots klebte. Eine leichte Übelkeit erfasste mich.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich, wobei ich mich bemühte, weder einen herablassenden noch zu betont wohlwollenden Ton anzuschlagen.
„Ja, ich ...“ Er sprach leise, fast so, als fürchte er sich vor seiner eigenen Stimme. Er war sehr nervös. Er spielte mit seinen Fingern, schnippte mit den Nägeln und zerbiss seine Unterlippe.
Um ihn nicht noch mehr zu irritieren, blätterte ich in einer herumliegenden Liste, in der die Teilnehmer aller meiner Seminare und Übungen schön säuberlich verzeichnet waren.
„Habe ich Ihren Namen schon notiert ...?“
Mein seltsamer Besucher blickte mich mit etwas zusammengekniffenen Augen an. Dabei war es in diesem Raum alles andere als gleißend hell. Sekundenlang bewegte er die Lippen, ohne aber einen Ton herauszubringen. Er schien sich irgendwie unschlüssig zu sein.
Schließlich würgte er hervor: „Ich heiße Bernd Ziegenhals ...“
Ich hatte Mühe, ein Lächeln zu verbergen.
„Ziegenhals ist ein kleiner Ort im Süden von Berlin“, erklärte mir mein Besucher, als wollte er für seinen merkwürdigen Namen um Verzeihung bitten. „In der DDR, am Großen Zug ... das ist eine Art See ...“
„Ich weiß“, lächelte ich. „Früher haben wir immer Ausflüge von Zeuthen nach Ziegenhals gemacht ...“
Wir schwiegen beide, irgendwie wurde die Szene bedrückend und unwirklich. Ich musterte Ziegenhals, als sollte ich sein Gesicht fünf Minuten später im Verlauf eines psychologischen Tests möglichst genau auf ein DIN-A4-Blatt nachzeichnen. Zuerst dachte ich, dass er gar keinen dünnen Ziegenhals hatte, sondern eher als stiernackig zu bezeichnen war. Sein Gesicht war breit, slawisch, robust. Sein ungepflegtes dunkles Haar und seine wilden Koteletten verliehen ihm etwas Löwenhaftes, während ihn der schlaffe Schnauzbart eher wie einen melancholischen Bernhardiner wirken ließ. Meine Assoziationen waren eindeutig: Gangster, Clochard, Pflastermaler, asoziales Element, Trunkenbold, LSD-Schlucker, Protestsänger, Radaubruder. Trotz dieser negativen Beurteilung bewunderte ich ihn irgendwie. Vielleicht weil ich selber sauber und adrett, pünktlich und zuverlässig, strebsam und erfolgreich, treu und ehrlich war.
„Tja, ich weiß nicht ...“, druckste Ziegenhals herum. „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um ... Sehen Sie, Herr Doktor, ich ...“
Hier brach er ab, weil Beatchen mir eine Coca brachte. Ich stellte die Flasche aufs Fensterbrett, verfolgte kurz eine Boeing 727 der PAN AM, die in Richtung Tempelhof zog, und konzentrierte mich dann wieder auf Ziegenhals.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein akzentfreies Hochdeutsch sprach. Diese Tatsache stand in einem auffälligen Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung. Aber das war ja hier in Dahlem nichts Neues.
In ihrem Schreibzimmer hörte Fräulein Blau Radio DDR. Eine weiche Stimme sang von den Zeigern einer Bahnhofsuhr, die sich „drehn drehn drehn“.
„Vielleicht können wir zur Sache kommen ...“, sagte ich, die gebotene Chance nutzend, und blickte kurz auf meine Armbanduhr.
„Angefangen hat es wohl 1951!“, sagte Ziegenhals plötzlich. Seine Stimme war wie verwandelt, ich spürte direkt, dass er sich innerlich einen Ruck gegeben hatte.
„Ich verstehe nicht ...“
„Ich mache das nicht gerne, aber mir bleibt nichts weiter übrig“, fuhr Ziegenhals fort, wieder etwas zaghafter.
„Nun kommen Sie doch endlich zum Thema!“, drängte ich ärgerlich. Ich vermutete in Ziegenhals einen verschrobenen