Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach


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über ein Findelkind ließ ihn mit einem Male unruhig werden. „Hast du ihn mitgebracht? Wo ist er jetzt? Wie alt ist er? Wie lautet sein Name?“

      Die vielen Fragen des Abtes überrumpelten den Cellerar, der auf der Bank nach hinten rutschte und wieder zu Wort zu kommen versuchte. Als Degenar schließlich verstummte, versuchte Ivo so viele Antworten wie möglich zu geben.

      „Ich habe das Pferd mitsamt dem Kind ins Kloster gebracht. Es schien mir das Beste zu sein, da ich weit und breit niemanden sehen konnte. Die Stute habe ich im Stall untergebracht, den Knaben in einem der Gewölbe. Er schläft tief und fest, so wie ich ihn gefunden habe. Er hat bisher weder ein Wort gesprochen noch die Augen geöffnet. Ich schätze sein Alter auf etwa sechs oder sieben Jahre.“

      Mit Gewölbe meinte Ivo vor allem Kellergewölbe und unterirdische Lagerräume. Dort traf man neben dem Kellermeister und seinen Gehilfen selten einen anderen Menschen an. Die Lager und Gewölbe waren einsame und kühle Orte, an denen sich niemand gerne länger aufhielt als es unbedingt notwendig war.

      „Hat dich jemand beobachtet?“

      Der sorgenvolle Ton verunsicherte Ivo, schließlich war der Junge nicht das erste Findelkind der Abtei. „Soweit ich es beurteilen kann, hat mich niemand gesehen.“

      „Gut!“ Der Abt erhob sich und begab sich ohne weitere Fragen zur Tür. Ivo blickte ihm verwirrt nach, wusste nicht, wie er den plötzlichen Aufbruch deuten sollte. Degenar wartete geduldig auf seinen Freund und erst als sich der beleibte Cellerar nicht regte, sprach der Abt mit drängenden Worten.

      „Lass uns den Knaben anschauen, bevor ihn jemand anderes zu Gesicht bekommt. Du weißt doch, dass es in unserem Kloster genug Augen und Ohren gibt, die nur allzu gerne von einem Fehltritt des Abtes oder dessen Freund berichten würden.“

      Endlich erhob sich Ivo und folgte Degenar. Zügig schritten sie an der zentral gelegenen Klosterkirche vorbei und zwischen mehrere Gebäude hindurch, bis hin zum Vorratskeller unter dem Refektorium. Dort blieb der Cellerar stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Sie waren allein. Ivo schob den Riegel einer einfachen Holztür zur Seite und verschaffte sich und seinem Freund Zutritt zu den düsteren Kammern unter der Erde. Am Eingang nahm er eine Lampe von der Wandhalterung und entzündete die darin befindliche Kerze. Mit dem dürftigen Licht kletterte Ivo langsam die Steintreppe hinab.

      Der Abt folgte einem spontanen Impuls und schloss die Tür, bevor er seinem Freund nacheilte, um niemandem einen Hinweis darauf zu liefern, dass sich jemand in den dunklen Grundmauern des Refektoriums aufhielt.

      In dem Gewölbe herrschte trotz des heißen und trockenen Sommers eine angenehme Temperatur. Für einen kurzen Augenblick empfand Degenar so etwas wie Neid auf seinen Freund wegen der Kühle. Doch sofort machte er sich klar, dass die Arbeit hier unten in den übrigen Jahreszeiten umso widriger sein musste.

      Am unteren Ende der Treppe entzündete Ivo eine weitere Kerze und reichte sie Degenar. Die beiden Freunde schritten an unzähligen Regalen mit verschiedensten Gütern vorbei, hinein in die Tiefen des großen Raumes. Der Abt fragte sich, wie sein Freund sich in diesem dunklen Labyrinth nur zurechtfinden konnte. Derart in Gedanken wäre er beinahe gegen Ivo gelaufen, der unerwartet vor einer breiten Tafel am Ende des düsteren Saales innehielt.

      Degenar hob Ivos Lampe an, um besser sehen zu können. Auf der Tafel lag ein kleiner Knabe, gänzlich in dunkles Leinen gehüllt, tief und fest schlafend. Sachte schlug Degenar das Tuch etwas beiseite und betrachtete das Gesicht, während Bruder Ivo noch ein paar umstehende Kerzen entzündete, die er allesamt auf die Tafel stellte.

      „Er hat kein einziges Wort von sich gegeben?“, versicherte sich Degenar noch einmal.

      „Kein einziges. Er kam nicht zu Bewusstsein, selbst als ich ihn im Wald auf das Pferd hievte und später hierher getragen habe. Ein leises Stöhnen war alles, was er von sich gab. Würde er nicht atmen, hätte ich ihn für tot gehalten. Er sieht ausgemergelt aus und nur der Herr weiß, wie lange er schon unterwegs ist.“

      Beide Mönche standen still neben dem Jungen und Ivo wartete auf eine Anweisung seines Freundes, doch Degenar dachte lange nach. Schließlich fasste er einen Entschluss und begann, den Jungen zu entkleiden.

      Zunächst wickelte er ihn vorsichtig aus dem dunklen Leinenstoff. Es war ein Umhang von feiner Qualität, was in Degenars Augen gut zu dem edlen Pferd passte. Seine Vermutung, der Junge könnte einer adeligen Familie entstammen, behielt er allerdings noch für sich. Der edle Stoff war ein Indiz dafür, was aber nicht ausschloss, dass das Kind auch der Sprössling eines Geächteten sein könnte, welches sich mit dieser Beute auf und davon gemacht hatte. Es gab viele mögliche Erklärungen und am einfachsten wäre es wohl gewesen, wenn der Junge aufwachen und mit ihnen sprechen würde.

      ‚Die entscheidenden Dinge nehmen niemals den einfachen Lauf, dachte sich Degenar und legte den feinen Umhang zur Seite.

      An Unterschenkeln und Füßen war der Junge völlig nackt, lediglich am Leib trug er ein weißes Untergewand aus fein gewobenem Leinen, wie Adelige es auch als Nachtgewand trugen. Gemeinsam mit Ivo streiften sie dem schlafenden Knaben das Linnen behutsam ab. Nackt und unschuldig lag er nun auf dem Tisch.

      In diesem Augenblick fiel Degenars Blick auf ein kleines Schmuckstück am Hals des Jungen. Er nahm es in die Hand und hielt es ins Kerzenlicht. Es war handwerklich hervorragend gearbeitet und bestand aus einer feingliedrigen Kette sowie einem merkwürdig geformten Ring, der auf der Oberseite reliefartige Vertiefungen aufwies. Die beiden Mönche schauten sich fragend an.

      „Was bedeutet das?“, fragte Ivo neugierig.

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Degenar, während er vorsichtig die Kette über das Haupt des Jungen streifte. Als er das Relief des Ringes betrachtete, setzte er es in Gedanken zu einem Bild zusammen, wie es der Ring in Wachs hinterlassen würde. „Das ist ein Siegelring!“

      Kurz entschlossen griff Degenar nach einer Kerze, tropfte flüssiges Wachs auf die Holztafel und drückte die Oberseite des Rings hinein. Nach einer Weile zog Degenar den Ring vorsichtig aus dem erstarrten Wachs. Die beiden Mönche beugten sich im fahlen Licht vor und betrachteten den Abdruck: Es war der Kopf eines Wolfes, dem Wappentier des hiesigen Grafen! Es gab keinen Zweifel darüber, was der Abt in Händen hielt und er konnte seine Überraschung vor Ivo nicht mehr verbergen.

      „Es ist der Siegelring des Grafen!“, flüsterte er geheimnisvoll.

      „Wie kommt der Knabe zu diesem Ring?“, entfuhr es dem Kellermeister voll Empörung. „Glaubst du, er hat ihn gestohlen?“

      Degenar blickte seinen Freund streng an. Offensichtlich zog der Cellerar nicht die gleichen Schlussfolgerungen wie er und so ließ Degenar Ivo an seinen Gedanken teilhaben. „Wenn es nur diesen Ring gäbe, könntest du vielleicht Recht haben. Doch da sind noch das Nachtgewand, der feine Umhang und das edle Pferd, die mich stutzig machen. Alles zusammen betrachtet, komme ich zu einem anderen Schluss.“

      Ivo konnte seinem Freund nicht folgen und als Degenar nicht weitersprach, entfuhr es ihm ungeduldig. „Sag schon, zu welchem Schluss kommst du?“

      „All diese Hinweise könnten bedeuten, dass der Junge ein Mitglied der Grafenfamilie ist. Das ist natürlich noch nicht erwiesen, doch es scheint mir sehr plausibel. Vieles deutet auf eine adlige Herkunft hin und dieser Siegelring zeigt eindeutig das Wappentier des Grafen. Es könnte sich bei dem Knaben um den Sohn des Grafen handeln!“

      „Meinst du den Sohn des neuen oder des alten Grafen?“, fragte Ivo verunsichert, der die Theorie seines Freundes offensichtlich als zu gewagt ansah.

      „Es gibt nur einen Grafen, das solltest du wohl wissen. Zumindest gab es ihn noch bis vor kurzem. Dessen Bruder ist augenblicklich nur Sachwalter.“

      Vor zwei Tagen erst war ein Botschafter im Kloster eingetroffen und hatte dem Abt die Neuigkeiten des Überfalls auf die Grafenburg und des tragischen Todes des Herrn Farold und seiner Gemahlin verkündet. Obwohl sich die Abtei einer höheren Macht verschrieben hatte, so unterlag sie doch stark den irdischen Begebenheiten. Noch am gleichen Abend hatte Degenar die Nachricht seinen Mitbrüdern nach der Vesperandacht mitgeteilt. Jeder Mönch war


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