Das große Buch der Berlin-Krimis 2017 - Romane und Erzählungen auf 1000 Seiten. Alfred Bekker
„Ist nur etwas gegen meine Kopfschmerzen“, behauptete sie. „Nichts Illegales.“
„Haben Sie eine Ahnung, wer Dima Modesta das angetan haben könnte?“, fragte ich.
„Nicht die Geringste“, behauptete sie.
„Wo hat er heute Nacht geschlafen?“
„Das wissen Sie nicht?“ Sie lachte erneut auf, diesmal schriller. Aber in diesem Lachen klang auch ihr ganzer Schmerz mit. Irgendwie schien sie tatsächlich etwas für Modesta empfunden zu haben. Wie genau die Beziehung zwischen den Beiden nun eigentlich aufzufassen war, davon hatte ich noch kein rechtes Bild. Aber das würde sich noch ergeben. „Jedenfalls nicht bei mir. Er hat mich auf dem Weg zum „Bordsteinschwalbennest“ von Zuhause abgeholt.“
„Können Sie uns nicht irgendeinen Ansatzpunkt liefern? Wurde Herr Modesta bedroht? Hatte er vielleicht Streit mit seinem Boss?“
„Mit seinem Boss? Wer soll das gewesen sein? Dima war sein eigener Boss.“
„Ich spreche von Vladi Gruschenko.“
Ihr Gesicht veränderte sich. Für einen kurzen Moment hatte sie ihre Züge nicht unter Kontrolle. Ihr Lächeln wirkte gezwungen und erinnerte an eine Maske.
„Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen, Herr Kubinke.“
„Und ich nehme an, diesen Namen haben Sie auch noch nie gehört?“
„Nie! Beim Leben meiner Mutter.“
6
Vladi Gruschenko war ein breitschultriger, großer und ziemlich beleibter Mann mit schwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und einem dunklen Vollbart. Seine Stimme war so durchdringend, dass man hätte glauben können, dass sie einem Bühnenschauspieler oder Opernsänger gehört hätte und tatsächlich hatte Gruschenko an einem Konservatorium Gesang und Klavier studiert, dann allerdings dieses Studium abgebrochen, als sein Vater gestorben war und er dessen Geschäfte hatte übernehmen müssen.
Aber dass er kein zweiter Caruso war, wusste er auch selbst. Sein Talent entsprach gutem Mittelmaß, nicht mehr. Immerhin hatte er es zu einer Plattenaufnahme mit den Berliner Philharmonikern gebracht. Allerdings war die Verdi-Arie, die er aufgenommen hatte, später wegen Überlänge nicht mit auf die Platte gekommen. Erst als die Platte später als CD wieder veröffentlicht worden war, war dieses Lied als Bonus-Track enthalten gewesen.
Aber das war zu einem Zeitpunkt gewesen, als Vladi Gruschenko seine Karriere als Musiker längst aufgegeben hatte. Es hatte ihm damals nicht mehr viel bedeutet, denn es war für ihn eher eine schmerzhafte Erinnerung an die aufgegebenen Träume seiner Jugend.
Dass der Track seinerzeit nicht mit auf die Platte gepresst worden war, das sah er bis zum heutigen Tag als die schlimmste Niederlage und Demütigung an, die er hatte hinnehmen müssen.
Schlimmer sogar als die vier Wochen Untersuchungshaft, die er vor ein paar Jahren mal über sich hatte ergehen lassen müssen, weil ein in seinen Augen übereifriger Staatsanwalt ihn unbedingt mit einem Auftragsmord in Verbindung bringen wollte.
Gruschenko war glimpflich aus der Sache herausgekommen.
Ein paar Zeugen waren mit Geld oder Schlägen günstig gestimmt worden, sodass es nicht einmal zu einem Hauptverfahren gekommen war.
Vladi Gruschenko steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund ließ sie aufglimmen. Mochte dieser Genuss inzwischen auch fast überall sonst in Berlin schon fast einem Kapitalverbrechen gleichkommen – in seinen eigenen vier Wänden konnte Vladi Gruschenko diesem Laster ungehemmt frönen. Er mochte Havannas.
Echte Havannas aus Kuba natürlich, nicht irgendwelche Nachgemachten und nicht mal halb so schmackhaften Imitate. Gemessenen Schrittes trat Vladi Gruschenko auf den Dachgarten seines Penthouses. Man hatte von hier aus einen hervorragenden Rundumblick über den Wedding.
Gruschenko besaß mehrere Dutzend Immobilien. Einen Teil seiner Drogengelder hatte er darin angelegt. Die Hälfte dieser Anwesen hatte er gut und teuer vermietet – die andere Hälfte nutzte er selbst. Darunter auch eine Finca auf Mallorca, wo er den Winter verbrachte und ein Haus auf Sylt für den Sommer.
Aber als Zentrum seines Lebens sah er immer noch diese Wohnung im Wedding an. In diesem Stadtteil war er aufgewachsen, hier hatte sich sein Vater nach oben geboxt und ihm eine Organisation hinterlassen, die er dann noch einmal um ein Vielfaches vergrößert hatte.
Vladi Gruschenko sog die klare kühle Luft ein und trat bis zur Balustrade. Dann blickte er hinab. Irgendwo hörte man ein paar Sirenen - Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst und ein paar Spaßvögel die einfach nur so gerne Krach machten. In der Stadt war eben immer was los..
Das alles mischte sich mit dem Lärm des Verkehrs und einem Gewirr von Stimmen. Der immer währende Chor jener Stadt, die ihn groß gemacht hatte und als deren Teil er sich fühlte.
„Vladi?“
Eine sanft klingende Frauenstimme drang erst ganz allmählich in sein Bewusstsein. Erst als sie seinen Namen noch einmal etwas eindringlicher wiederholte, drehte sich Vladi Gruschenko mit einem Ruck herum.
„Violetta“, murmelte er.
Seine Frau hatte dunkle Augen und ebenso dunkles Haar, auch wenn die Schwärze von letztem inzwischen nicht mehr natürlichen Ursprungs war. Kinder waren ihnen nicht vergönnt gewesen. Es gab eben Dinge, die man sich selbst für das astronomische Gruschenko-Vermögen nicht kaufen konnte.
Violetta trat auf ihn zu. Sie hielt ein Telefon in der Hand.
„Der Anruf aus Wien“, sagte sie.
„Ah ja. Danke.“
Er nahm den Apparat ans Ohr.
„Ist das Problem gelöst?“, fragte er.
7
Nachdem Rudi und ich unsere Arbeit am Tatort erledigt hatten, waren wir in unseren Ermittlungen noch kein Stück weiter. Zusammen mit den Kollegen hatten wir Dutzende von Anwohnern aus der Nachbarschaft befragt, ob sie etwas Verdächtiges gesehen hatten. Die Toten waren inzwischen in der Gerichtsmedizin und die Erkennungsdienstler versuchten herauszufinden, welche Art von Sprengstoff verwendet worden war.
Uns blieb jetzt nur eins – die so genannten Freundinnen von Dima Modesta abzuklappern. Wir kannten etwa Hälfte von ihnen.
Jennifer Petersen blieb jedenfalls bei ihrer Aussage, nicht zu wissen, wo Modesta die letzte Nacht verbracht hatte.
Während wir am Tatort gewesen waren, hatten unsere