Das große Buch der Berlin-Krimis 2017 - Romane und Erzählungen auf 1000 Seiten. Alfred Bekker
das ist nicht dein Ernst...“
„Was hältst du davon: Gruschenko musste befürchten, dass Dima Modesta gegenüber der Justiz auspackt, sobald er verhaftet würde und musste ihn vorher aus dem Weg räumen. Die Verwüstung des „Bordsteinschwalbennest“ war dabei zweitrangig.“
„Ein Kollateralschaden sozusagen.“
„Hässliches Wort, Rudi. Aber ich fürchte, Gruschenko sieht das so, genauso wie den Tod einiger völlig Unbeteiligter.“
Rudi schwieg eine Weile, ehe er schließlich feststellte: „Dann muss Gruschenko gewusst haben, dass Modestas Verhaftung bevorsteht.“
„Wäre das denn das erste Mal, Rudi?“
„Nein, leider nicht.“
Wir erreichten schließlich das Präsidium .
Das Waffenarsenal, das wir in Kendra Dörnemeyers Wohnung sichergestellt hatten, führten wir unseren Erkennungsdienstlern und Ballistikern zu.
Dann gingen wir in das Dienstzimmer, das wir uns teilten. Ich zog mir einen Kaffee, Rudi wollte nicht. Mir knurrte der Magen, ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Aber noch mehr Bauchschmerzen machte mir der Fall, an dem wir gerade arbeiteten.
Ich wollte mich bei unserem für Betriebswirtschaft zuständigen Kollegen Nick Nörtemöller danach erkundigen, ob seine Ermittlungen in Sachen verdeckter Geldströme inzwischen irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht hatten. Aber es stellte sich heraus, dass unser Kollege bereits nach Hause gegangen war.
„Das sollten wir auch tun, Harry“, lautete Rudis Fazit, als ich wenig später mit meinem dampfenden Kaffee wieder in unserem Dienstzimmer auftauchte.
„Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, dass wir derzeit noch ziemlich im Nebel herumstochern“, meinte ich.
„Um Leuten wie Vladi Gruschenko an den weißen Kragen zu können braucht man Zeit, Harry, Zeit und Geduld. Das Problem ist doch ganz einfach – wir haben einfach noch nicht genügend juristische Munition gegen ihn gesammelt. Und bevor das nicht der Fall ist, haben wir keine Chance gegen ihn.“
„Trotzdem – er muss sehr nervös sein“, glaubte ich.
Rudi hob die Augenbrauen.
„Woraus willst du das bitte schön schließen?“
„Na, hätte er Kendra Dörnemeyer sonst gleich mit einem seiner Star-Anwälte bändigen müssen?“
10
Vladi Gruschenko erschien mit seinem Gefolge im Restaurant „Michele“. Das Lokal lag nur drei Blocks von Gruschenkos Residenz entfernt. Außerdem hielt Gruschenko einen Anteil von 51 Prozent an den Kapitaleinlagen des Unternehmens, von dem es in Berlin noch drei Filialen unter demselben Namen gab. Gehobene italienische Gastronomie in gediegenem Ambiente konnte der Gast hier genießen.
Und davon abgesehen fühlte sich Gruschenko hier sicher.
Gruschenkos Gesprächspartner war Hüssein Gümüs von Gümüs, Töppwall & Associates. Gruschenko hatte den blassgesichtigen Mann eine halbe Stunde warten lassen. Für Gruschenkos Verhältnisse war diese relativ geringe Verspätung schon fast so etwas wie ein Gunsterweis.
Gruschenko setzte sich.
Dann machte er seinen Leibwächtern ein Zeichen, woraufhin die sich zurückzogen. Sie postierten sich mehr oder weniger unauffällig an verschiedenen, strategisch wichtigen Punkten innerhalb des Lokals. Unter anderem am Eingang und an der Bar, von der aus man den gesamten Raum überblicken konnte.
„Nun, wie stehen die Aktien, Herr Gümüs?“, fragte Gruschenko, während ihm der Kellner wortlos den Rotwein hinstellte. Es war immer dieselbe Sorte. Man kannte Gruschenko hier und der beleibte Mann hasste es, wenn man ihn jedes Mal aufs neue fragte, was er wünschte. Das Personal des „Michele“ war genauestens instruiert, wie es mit diesem speziellen Gast umzugehen hatte.
Das Einzige, was sich bei jedem von Gruschenkos Besuchen änderte war die Uhrzeit. Er kam nie zwei Mal hintereinander zur selben Zeit in das Lokal, obwohl er es fast jeden Tag besuchte, um die eine oder andere Besprechung abzuhalten. Normalerweise liebte Gruschenko die Regelmäßigkeit. Er bekam immer das gleiche Menü, den gleichen Wein, die gleiche Nachspeise.
Dass er zu so unterschiedlichen Tageszeiten hier auftauchte, hatte allein Sicherheitsgründe.
„Kendra Dörnemeyer hat Geld verlangt“, sagte Gümüs.
„Wie viel?“
„Hunderttausend.“
„Die Dame überschätzt sich wohl etwas.“
„Würde ich auch sagen – zumal sie uns nicht substanziell schaden könnte.“
„Was haben Sie ihr gesagt?“
„Dass ich Ihnen ihre Forderung ausrichten würde, ich ihr aber nichts versprechen könnte.“
„Sagen Sie ihr zu.“ Gruschenko seufzte und nippte an seinem Weinglas. „Sie mag unverschämt sein, aber sie hat offenbar einen guten Instinkt für den richtigen Moment. Wir haben im Augenblick so viel Ärger, dass es besser ist, hunderttausend Dollar an Kendra Dörnemeyer zu bezahlen und damit zumindest an einer Front Ruhe zu haben.“
„Wie Sie meinen, Herr Gruschenko. Aber da ist noch etwas, das Sie wissen sollten.“
Gruschenko hob die Augenbrauen. „So?“
„Kendra Dörnemeyer hat in ihrer Wohnung ein kleines privates Waffenarsenal für Dima Modesta aufbewahrt.“
„Könnten wir dadurch in irgendetwas hineingezogen werden?“
Gümüs zuckte die Achseln. „Das BKA war schon dort, als ich bei Kendra eintraf und um ein Haar hätten die Bullen sie so in die Mangel genommen, dass sie bereitwillig geplaudert hätte, zumal sie wohl ziemlich schockiert von dem war, was sich im „Bordsteinschwalbennest“ abgespielt hat.“
„Das meine ich nicht. Wenn Kendra hunderttausend bekommt, wird sie dicht halten, da bin ich mir sicher. Nein, ich spreche von diesen Waffen? Je nachdem, wann und wobei die schon benutzt wurden...“
„Herr Gruschenko, ich habe wirklich keine Ahnung.“
Vladi Gruschenko atmete tief durch und nahm noch einen weiteren Schluck Wein. „Dann werden wir wohl abwarten müssen, ob da noch irgendwelche Leichen im Keller liegen....“
„Ich fürchte ja, Sir. Und dann ist da noch etwas.“
Gruschenko zog die Augenbrauen zusammen, sodass eine deutlich sichtbare Furche in der Mitte seiner Stirn entstand.
„Heute bringen Sie mir die schlechten Nachrichten Scheibchenweise, was?“
„Ich habe einen Anruf bekommen. Die Sache mit Wien ist noch nicht ausgestanden.“
Gruschenko lehnte sich zurück. „Okay, reden Sie, Gümüs!“
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