Das große Buch der Berlin-Krimis 2017 - Romane und Erzählungen auf 1000 Seiten. Alfred Bekker
wir Glück haben will Sanders auch nicht, dass wir das erfahren und ist entsprechend kooperationsbereit.“
Jürgen und Olli fragten sich bis zum Chef durch. Sanders war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren, die wie ein etwas ausgedünnter englischer Rasen geschnitten waren.
Seine Augen waren falkengrau und die Stimme, mit der er seine Angestellten herumkommandierte, war so durchdringend, dass jeder Drill Sergeant der Marines dagegen richtig nett klang.
„Was wollen Sie hier?“, fauchte er Jürgen und Olli an. „Das ist kein öffentliches Gelände und ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie hier zu suchen haben...“
Jürgen stoppte seinen Redefluss, indem er ihm den Dienstausweis des BKA unter die Nase hielt. „Ich bin Kommissar Carnavaro und dies ist mein Kollege Kommissar Medina. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“
„Ich schlage vor, Sie setzen sich gleich mit meinen Anwälten in Verbindung. Dann sparen wir beide eine Menge Zeit.“
„Es geht nicht um Schwierigkeiten mit der Steuerbehörde, Herr Sanders.“
„Ach, nein? Man versucht mir doch schon seit Jahren einen Strick zu drehen, aber weil Sie und Ihresgleichen nichts in der Hand haben, versuchen Sie es eben auf die linke Tour und ärgern mich mit einer Betriebsprüfung nach der anderen. Dabei tue ich nur nur das, was die deutschen Gesetze mir gestatten! Ich suche mein Glück als Unternehmer und mache ganz legale Geschäfte!“
„Wir können uns hier unterhalten oder ich nehme Sie mit ins Präsidium und lasse die Befragung von unseren Verhörspezialisten durchführen“, sagte Jürgen. „Das liegt ganz bei Ihnen.“
Sanders atmete tief durch. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ging mit uns ein paar Schritte.
Er wollte wohl nicht, dass irgendjemand mitbekam, wie weit seine Kooperationsbereitschaft tatsächlich ging. Dafür hatte Jürgen sogar ein gewisses Verständnis. Er zeigte ihm den Screenshot.
„Nie gesehen. Was soll das sein? Eine Szene aus einem dieser hässlichen Gewaltspiele oder Reklame für einen C-Film, der nur auf DVD erschien?“
„Hören Sie auf mit den Spielchen. Es geht um den Rothaarigen. Sie sind mit ihm gesehen worden und wenn Sie nicht in Schwierigkeiten kommen wollen, dann hören Sie jetzt besser mit Ihrem Versteckspiel auf.“
Olli mischte sich ein und deutete auf einen der Container, der gerade vom Kran durch die Luft gehievt wurde.
„Ich weiß nicht, ob Ihre Handelspartner es schätzen, wenn es zu Lieferverzögerungen durch umfangreiche Durchsuchungen kommen sollte!“
„Sie haben gegenwärtig keine Handhabe gegen mich.“
„Aber wir wissen seit kurzem, dass Sie Kontakt zu einem Rainer Gabaldi unterhalten – und falls Sie nicht wollen, dass dessen Schwierigkeiten auch auf Sie abfärben...“
„Okay, okay!“, fauchte Sanders. „Ich habe Rainer Gabaldi zum letzten Mal vor mindestens einem Jahr gesehen! Und im Augenblick mache ich auch keine Geschäfte mit ihm. Weiß der Teufel, wo der steckt und was er treibt! Außerdem sollten Sie beide mal über Folgendes nachdenken: Im Moment betrachtet die Justiz quasi jeden Schritt, den ich tue, unter dem Mikroskop. Ich stehe doch stärker unter Beobachtung, als wenn ich irgendeine Bewährungsauflage zu erfüllen hätte! Ihr Aasgeier wartet doch nur darauf, mir was am Zeug flicken zu können. Glauben Sie wirklich, dass ich so dumm bin, mir in dieser Situation eine juristische Blöße zu geben?“
„Kommen Sie zur Sache, Sanders!“, forderte Jürgen.
„Den Rothaarigen kenne ich nicht. Ehrenwort.“
Jürgen verdrehte die Augen. „Wer soll Ihnen das glauben? Sie sitzen mit ihm beim Frühstück in einem Coffee Shop und wissen nicht, wer das ist?“
Sanders atmete tief durch. „Okay, ich habe vor einer ganzen Weile mit Gabaldi gefrühstückt – und den Rothaarigen hat Gabaldi mitgebracht. Ich weiß nicht, wer das war. Er ist auch früher gegangen.“
„Und Sie haben sich nicht mal nach dem Namen erkundigt?“
„Ist das auch schon ein Verbrechen? Ich weiß nur noch eins: Als der Rothaarige gegangen war, hat Gabaldi gesagt, das sei der Ire. Wenn ich mal ein Problem hätte, würde er es aus der Welt schaffen.“
„Ein Killer.“
„Ich habe nicht nachgefragt, denn ich hatte kein Problem, das zu lösen war.“
16
Vladi Gruschenko schloss die Augen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab sich ganz dem Genuss der Musik hin. Der Raum war schalldicht und so dröhnte der Klang der Berliner Symphoniker nicht in die anderen Räume.
Ja, dachte er. Das ist perfekte Harmonie...
In diesem Meer aus reinem Wohlklang konnte sich Gruschenko regelrecht verlieren. Er vergaß dann alles. Seine Sorgen, die Geschäfte, die Probleme mit der Justiz oder der Konkurrenz...
Manchmal sogar die Zeit selbst. Er geriet dann in einen Zustand, der irgendwo zwischen Trance und Traum zu definieren sein musste. Das war seine ganz persönliche kleine Flucht, aber Gruschenko fand, dass sie ihm zustand. Niemand durfte ihn dabei stören. Nicht einmal Violetta.
Ein grobes, hartes Geräusch riss ihn allerdings diesmal aus seiner Versenkung heraus. Jemand öffnete die Tür. Schritte auf dem glatten Parkett mischten sich in den Klangteppich der Streicher hinein wie ein unpassend gespieltes Schlagwerk.
Und dann die heisere Stimme, die ihn anfauchte.
Gruschenko öffnete die Augen und starrte in das hochrote Gesicht von Artur Titow, einem seiner Neffen. Vladi Gruschenko hatte geglaubt, dass Titow der ideale Kandidat für seine Nachfolge wäre. Der Plan, Artur zu seinem Nachfolger aufzubauen, verfolgte Vladi Gruschenko schon lange. Schließlich musste es ja auch nach seinem Ableben irgendwie weitergehen. Aber seitdem Vladi Gruschenko seinen Neffen in diesen Plan eingeweiht hatte, ließ Artur mitunter den nötigen Respekt vermissen. Er fühlt sich zu sicher!, dachte Gruschenko. Und das ist immer ein Fehler.
„Was fällt dir ein, hier hereinzuplatzen!“, schimpfte der Musikliebhaber und Sänger. Seine Stimme hatte genügend Kraft, dass er die Stereoaufnahme übertönen konnte und trotzdem noch verständlich sprach – anders als es bei Titows Gekrächze der Fall war. Es kam eben letztlich immer auf die nötige Atemtechnik an. Zwerchfellatmung – das war das Geheimnis und das Fundament dieser Stärke.
Artur zuckte regelrecht zusammen.
„Onkel Vladi, es muss etwa geschehen! Ich habe soeben gehört...“
„Nein, jetzt hörst du mir erstmal zu!“, unterbrach Vladi Gruschenko seinen Neffen, nachdem er per Fernbedienung die Musik abgeschaltet hatte. „Wie kannst du hier hereinplatzen, wo du genau weißt, dass mir diese Augenblicke heilig sind? Wie kannst du außerdem versuchen, mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe?“
Violetta betrat jetzt den Raum. Sie sah ziemlich unglücklich aus und warf einen entschuldigenden Blick in Richtung ihres Mannes. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Aber Artur ist einfach durch die Wohnung gestürmt...“
„Schon gut, Violetta. Dir mache ich keinen Vorwurf“,