Taunusschuld. Osvin Nöller

Taunusschuld - Osvin Nöller


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      Er sprach kurz mit dem Kollegen am Empfang und ließ sich einen Besucherausweis aushändigen, den er ihr gab. Sie liefen einen langen Gang entlang.

      „Sorry, wenn ich das so direkt sage, aber du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.“

      Sehr charmant, fuhr es ihr durch den Kopf. Schnell erzählte sie ihm von der ominösen Nachricht und ihren Stunden im Strandkorb.

      „Na toll“, entgegnete er. „Hast du einen Verdacht, wer dahintersteckt?“

      ­Melanie zuckte mit den Schultern. „Ich habe die halbe Nacht nachgedacht und bin immer wieder auf Pascal ­Wolter gekommen.“

      ­Sandro hob die Augenbrauen. „Der sitzt doch gut behütet in Hamburg im Knast. Wie sollte der das bewerkstelligt haben?“

      „Es gibt auch dort Wege. Dir muss ich doch nicht erklären, was alles möglich ist.“ Sie seufzte. „Ich weiß es aber nicht.“

      „Jetzt lass uns mit den Kollegen über den Überfall sprechen und danach kümmern wir uns um diesen Mist. ­Martin wartet bereits.“

      ­Schubert begrüßte sie zusammen mit Sarah Schwenke und Felix ­Hummer in einem Büro.

      Sie war nicht nur ein bisschen erstaunt, die komplette Mannschaft vorzufinden, sondern auch, dass die Vernehmung nicht wie üblich in einem Besprechungsraum durchgeführt wurde.

      ­Schubert schien ihre Gedanken zu erraten. „Wir haben uns gedacht, wenn wir schon das Glück haben, Sie als Zeugin zu haben, könnten wir Ihre Aussage aufnehmen und danach den gesamten Ablauf mit Ihnen anhand der Aufnahmen aus der Überwachungskamera anschauen.“

      ­Melanie schmunzelte und zog sich die Daunenjacke aus. „Gerne.“

      Sie orientierte sich bei ihrer Schilderung strikt an den gemachten Beobachtungen und verzichtete auf eigene Interpretationen. Sie beobachtete Sarah, die sie bisher erst einmal getroffen hatte. Die junge Kriminalkommissarin stellte die richtigen Zwischenfragen. ­Schubert und ­Sandro hielten sich zurück. Dagegen wirkte der etwas ältere Felix ­Hummer auf ­Melanie ein wenig nervös und fahrig. Sein blutleerer Teint passte ihrer Meinung nach zu diesem Eindruck.

      Schließlich las sie ihre Aussage durch und unterschrieb sie.

      ­Sandro hatte in der Zwischenzeit einen Computerbildschirm herumgedreht, worauf sich die Anwesenden mit ihren Stühlen vor dem Rechner versammelten. Er bearbeitete die Tastatur, nach einer Weile erschien ein klares Bild vom Verkaufsraum des Juweliergeschäfts. Dann startete er den Film, der unmittelbar vor dem Eintreten des Täters einsetzte.

      Die Qualität der Aufnahmen war erstklassig. ­Melanie bemerkte belustigt, wie ungeduldig sie gewesen war. Im Video ging sie zur Uhrenvitrine und kehrte dem Eingang den Rücken zu. Der Mann betrat den Laden forsch, sie drehte sich zu ihm um. Plötzlich hielt er inne, wirkte unschlüssig. Eine Mitarbeiterin, die hinter einem Verkaufstisch saß, sah auf, schien zu erschrecken und sackte zu Boden.

      „Stopp“, rief ­Melanie, worauf ­Sandro die Computermaus betätigte.

      Das Team schaute sie gespannt an.

      „Lass das doch bitte noch einmal bis zu der Stelle zurücklaufen, an der er erscheint, und zeige uns die Sequenz bis hierhin in Zeitlupe, falls das möglich ist. Dann achtet mal auf seine Bewegung und das Verhalten der Verkäuferin links.“

      ­Sandro kam ihrer Aufforderung nach. Als die Szene beendet war, hielt er die Aufnahme erneut an.

      ­Schubert kratzte sich am Kopf. „Ich sehe den Film zum ersten Mal. Was ist Ihnen genau aufgefallen? Da ist eine Angestellte, die Schockanzeichen zeigt, und ein Täter, der übernervös agiert.“

      ­Melanie nickte. „Stimmt soweit. Allerdings betritt der Mann sehr bestimmt und kontrolliert den Laden. Er schaut sich um und in dem Augenblick, als er diese Frau wahrnimmt, geht eine Veränderung in ihm vor. Er erscheint mir mit einem Mal beinahe panisch, man könnte den Eindruck bekommen, dass er sogar überlegt, den Überfall abzubrechen. Gleichzeitig sieht ihn die Frau, erschrickt fast zu Tode und verabschiedet sich unter den Tisch. Jetzt wäre doch der Moment gekommen, um Forderungen zu stellen. Stattdessen bleibt er stumm und wedelt nur mit der Waffe herum. Warum verhält er sich dermaßen atypisch?“

      „Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst“, meldete sich ­Sandro zu Wort. „Es sieht so aus, als ob der Typ überrascht war, genau diese Mitarbeiterin anzutreffen. Ist es das, was du meinst?“

      Sarah Schwenke schlug die Hand vor die Stirn. „Die beiden kennen sich! Und der Täter scheint zu hoffen, dass sie ihn nicht erkennt. Deshalb bleibt er stumm.“

      „Bingo“, bestätigte ­Melanie zufrieden. Längst hatte sie ihr Jagdinstinkt im Griff.

      ­Schubert riss die Augen auf. „Zeig das noch einmal!“

      Am Ende der Filmsequenz schlug er auf den Tisch. „Sauber, ihr habt vermutlich recht!“

      Sarah grinste. „Sie heißt ­Simone ­Dörling und sollte an dem Morgen nicht bei der Arbeit sein, da sie eigentlich krankgeschrieben war. Das passt hundertprozentig!“

      ­Sandro startete den Film erneut. Sie schauten ihn weiter an, bis zu dem Punkt, an dem der Täter das Geschäft fluchtartig verließ.

      „Ich wage eine weitere Behauptung“, begann ­Melanie. „­Jühlich erwartet den Überfall. Aus diesem Grund holt er den Schlüssel ohne Aufforderung aus der Schublade. Ich wette, es handelt sich um einen geplanten Versicherungsbetrug. Alles ist aus dem Ruder gelaufen, weil die Tatsache, dass ­Dörling unerwartet anwesend war, den Typen aus der Bahn geworfen hat.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Ich hatte recht, dachte ­Melanie zufrieden.

      ­Sandro sah ­Schubert an. „Auch das ergibt Sinn. Deswegen war der Juwelier morgens außer sich, als die ­Dörling erschien. Vermutlich befürchtete er, sie könnte den Täter erkennen.“

      ­Schubert schaute nachdenklich zum Fenster. „Ein interessanter Ansatz. Dem gehen wir nach.“

      Die Tür öffnete sich. Sebastian ­Wolrich, der Leiter der Polizeidirektion, betrat den Raum gemeinsam mit einem großgewachsenen Mann.

      „Hallo zusammen“, grüßte er, als sein Blick auf ­Melanie fiel. Er ging direkt auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Schön, Sie zu sehen. Ich hörte davon, dass Sie das Pech hatten, beim Überfall dabei zu sein.“

      Sie stand, wie auch alle anderen, auf und erwiderte den Gruß.

      „Ich möchte euch Heiko ­Pränger vorstellen.“ ­Wolrich schaute zum plötzlich verbissen wirkenden ­Schubert. „Du kennst ja Heiko noch aus seiner Zeit bei uns.“

      Der Hauptkommissar nickte verkniffen.

      „Er arbeitet heute im Bundeskriminalamt in Wiesbaden in der Abteilung Schwere und organisierte Kriminalität.“ Der Leiter wedelte mit einem Blatt Papier. „Er hat euch etwas mitzuteilen.“

      ­Pränger zeigte auf ­Melanie und drehte sich zu ­Wolrich um. „Hier vor einer Zivilperson?“

      Wenn der Typ mit den kurzen braunen Haaren und dem Dreitagebart nicht schon vorher unsympathisch rübergekommen wäre, hätte er es spätestens jetzt geschafft. Er strahlte Überheblichkeit aus, dass er aber unverblümt mit dem ausgestreckten Finger auf sie gezeigt hatte, war das i-Tüpfelchen für ihre Bewertung. Leider kannte sie solche Beamten aus ihrem früheren Berufsleben nur zu gut. Vielleicht besaß sie deshalb eine spezielle Schublade für sie, in der ­Pränger gerade verschwunden war.

      Umso mehr freute sie ­Wolrichs Reaktion. „Du kannst offen vor Frau ­Gramberg sprechen. Sie ist eine ehemalige LKA-Kollegin aus Hamburg und war während des Überfalls zufällig am Tatort. Wir haben seit einem Fall, bei dem sie uns vor ein paar Monaten sehr geholfen hat, so was wie ein kollegiales Verhältnis zu ihr. Sie versteht es, mit vertraulichen Informationen umzugehen.“

      ­Melanies Gesicht wurde bei so viel öffentlicher Wertschätzung warm.

      ­Pränger


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