Das AK-Steiger-Prinzip. Anna Katharina Steiger

Das AK-Steiger-Prinzip - Anna Katharina Steiger


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      Ich bin aus dem Jahrgang 1963 und das Wunschkind meiner Eltern. Aufgewachsen bin ich während meiner ersten acht Lebensjahre mit einem zehn Jahre älteren Bruder, doch dazu später. Meine frühe Kindheit war unbeschwert. Ich war ein glückliches Kind, ich hatte meinen Freundeskreis, nachmittags trafen wir uns zum Spielen vor der Tür, ich war viel unterwegs, ein richtiger Wildfang. Meine Mutter war Hausfrau und Mutter und besserte den Lebensunterhalt durch verschiedene Stellen als Haushaltshilfe auf. Mein Vater war Vorarbeiter in einer Zellwollfabrik. Ich war das typische Kind einer Arbeiterfamilie, dazu erzogen, etwas “Besseres” zu werden und den richtigen Mann zu heiraten.

      In dem Sommer, als ich acht Jahre alt wurde, bekam mein Vater die Nachricht, dass sein Arbeitgeber die Tore schließen wird. Die Maschine, an der mein Vater arbeitete, war schon verkauft. Da er immer ein guter Mitarbeiter gewesen war, der sich gut mit dieser Maschine auskannte, wurde ihm angeboten, in der Firma, die die Maschine gekauft hatte, weiterzuarbeiten. Dies sollte einen Umzug für uns bedeuten an den Niederrhein. Mein Bruder hatte gerade seine Lehre zum Speditionskaufmann beendet und hatte eine Anstellung in seinem Ausbildungsbetrieb in Aussicht. Unser Umzug war also für den 31.10. geplant.

       Mein Leben änderte sich

      Ich musste nun alles zurücklassen, meine beste Freundin, meine Spielkameraden, meine Schule, meine gewohnte Umgebung. Damals habe ich mir nichts daraus gemacht, weil mir versichert wurde, ich werde neue Freunde finden und eine neue Schule besuchen. Meine beste Freundin versprach mir zum Abschied: “Der Platz neben mir wird immer frei bleiben für dich”.

      Wenige Tage vor dem Umzug fand meine unbeschwerte Kindheit allerdings ein jähes Ende. Wie fast jeden Nachmittag spielte ich mit meinen Freunden draußen, zumal es einer der letzten Tage war, die ich noch mit ihnen spielen konnte. Auf einmal rief einer unserer Nachbarn nach mir und sagte, ich solle dringend nach Hause gehen. Mich interessierte das im ersten Moment überhaupt nicht, schließlich waren die Laternen noch nicht an und erst dann musste ich sonst immer zu Hause sein. Ich spielte also weiter mit meinen Freunden und ging dann irgendwann nach Hause, in keinster Weise darauf vorbereitet, was mich dort erwartete.

      Noch auf dem Nachhauseweg konnte ich mir keinen Reim darauf machen, wieso ich früher als sonst nach Hause sollte. Mein Vater war damals schon an unserem zukünftigen Wohnort und renovierte die neue Wohnung. Der Umzug in den Ruhrpott stand in wenigen Tagen an. Ich vermutete also, dass es hierzu etwas zu regeln gab. Ich ging also gemächlich nach Hause, wo ich von unserer direkten Nachbarin und deren Tochter, der Freundin meines Bruders, in Empfang genommen wurde. Die beiden gingen direkt mit mir in mein Zimmer und ich war völlig irritiert. Warum durfte ich nicht ins Wohnzimmer und warum sahen alle so kreidebleich aus? Die Freundin meines Bruders setzte sich mit mir auf mein Bett, nahm mich in den Arm und versuchte, mir in einfachen Worten zu erklären, dass mein Bruder mittags einen Verkehrsunfall hatte, bei dem er gestorben war.

      Er war mit seinem Fahrrad zu unserer Verwandtschaft nach Köln gefahren, um sich von den Großeltern und Onkel und Tante kurz vor dem Umzug zu verabschieden. Da es mittags sein Lieblingsessen geben sollte, wollte er unbedingt noch seine Freundin von der Schule abholen und auf jeden Fall zum Mittagessen zu Hause sein. Auf diesem Weg, öffnete ein unaufmerksamer Autofahrer die Fahrertür, ohne nach hinten zu sehen, direkt vor meinem Bruder. Da er nicht mehr bremsen konnte, stürzte er über die geöffnete Autotür zwischen den Anhänger eines mit Kies beladenen Lasters und starb noch an der Unfallstelle.

      Als mein Vater abends gegen 22.00 Uhr nach Hause kam, ahnte er natürlich nichts von dem, was passiert war, denn damals gab es noch keine Möglichkeiten, ihn unterwegs zu erreichen. In der neuen Wohnung gab es noch kein Telefon und Mobiltelefone waren noch nicht erfunden. Als er die Wohnung betrat, war er sehr verwundert über die gesamte Verwandtschaft, die in unserem Wohnzimmer saß, und sagte: „Was ist denn hier für eine Familienfeier?“

       Plötzlich Einzelkind

      Mein Bruder und ich waren bislang typische Geschwister gewesen. Durch den großen Altersunterschied (mein Bruder war zehn Jahre älter als ich), waren wir ein bisschen wie Hund und Katz, wir konnten nicht miteinander, und noch viel weniger ohne einander. Trotzdem hatten wir ein gutes Verhältnis, wir tobten viel und er benutzte mich manchmal als Alibi, wenn er mit seiner Freundin ins Kino wollte. „Wir nehmen meine Schwester mit“, sagte er häufig meinen Eltern, und so kam ich als Kind in den Genuss von Kinobesuchen und mein Bruder konnte währenddessen mit seiner Freundin turteln.

      Damals musste ich die Situation, jetzt ohne meinen Bruder zu sein, für mich erst einmal verarbeiten und ich weiß noch, wie ich zwei Tage nach dem Tod meines Bruders, in den Händen einige seiner Sachen, zu meiner Mutter sagte: „Mama, das gehört jetzt alles mir.“ Mein Bruder war nicht mehr bei uns und brauchte seinen Kassettenrekorder nicht mehr, daher war es für mich – als Achtjährige - die logische Konsequenz, Besitzansprüche zu erheben, wo wir doch bis dahin, sowieso das Meiste geteilt hatten.

      In der folgenden Zeit war ich viel alleine, mein Vater vergrub sich in der Arbeit, meine Mutter in die Trauer. Gefühlt war sie mehr auf dem Friedhof als zuhause. Der Umzug erfolgte trotz allem und die neue Umgebung, eine neue Schule und neue Menschen machten diese Situation für uns alle nicht leichter. Von psychologischer Betreuung wurde damals noch nicht gesprochen. Heute ist es für Eltern und Geschwister selbstverständlich, in solchen Fällen Hilfe zu erhalten.

      Von einem Tag auf den anderen war ich nun ein Einzelkind und mein freies und unbeschwertes Leben hatte ein Ende. Meine Eltern überwachten und beschützten mich, wo sie nur konnten. Sie packten mich in Watte und schlossen mein Fahrrad weg, sie wollten mich nicht auch noch verlieren. Ich versuchte, so oft ich konnte, aus der Situation, die mich erdrückte, auszubrechen. Ich fühlte mich eingeengt und fremdbestimmt und im Nachhinein habe ich meine Eltern bestimmt einige Nerven gekostet.

       Wieder zurück

      Nach 18 Monaten kehrten wir zurück, weil wir Heimweh hatten und meine Eltern nicht warm wurden in der neuen Umgebung. Die alten Freunde und die alte Schule waren noch da und der Platz neben meiner besten Freundin war natürlich für mich frei. So vergingen einige Jahre. Ich gewöhnte mich an meine Einschränkungen, die meinen Alltag bestimmten. Meine freie, unbeschwerte Kindheit war vorbei.

      Die Bewachung und Überwachung setzten sich als Teenager fort. Mit wem ich unterwegs war, wohin ich wollte, was ich machte, mit welchen Jungs ist mich traf wurde zunehmend Thema, denn es sollte ja direkt der “Richtige” sein. Ausprobieren durfte ich mich nicht. Alles wurde streng überwacht und im Zweifel auch überprüft. Verstöße wurden hart sanktioniert. Auch wenn ich immer wieder aufbegehrte, ließ ich mich meist, um den Sanktionen aus dem Weg zu gehen, fremdbestimmen.

      Erst Jahre später kam mir wieder ein Satz in den Sinn, den ich mehrfach von meiner Mutter damals gehört hatte: „Du bist die Falsche!“ Sie war damals anscheinend tatsächlich der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre, anstatt meines Bruders. In ihrer Trauer mit einem mehr als aufmüpfigen Teenager vielleicht noch verständlich, trotzdem waren es harte Worte. Anfangs habe ich überhaupt nicht verstanden, was sie damit meinte, und natürlich hat sich dieser Glaubenssatz in mir breit gemacht und sich über Jahre hinweg gefestigt. Damals wusste ich nicht, wie ich mit einer solchen Äußerung umgehen sollte. Als Kind nimmt man die Dinge, die die Eltern einem sagen, für bare Münze und so nahm ich auch diese Aussage hin. Mir war nicht klar, dass mein Unterbewusstsein fortan dafür sorgen würde, dass alles was ich tat, in den Augen der Anderen falsch war, dass ich als Person „falsch“ war.

      Später in meinem Leben, als ich erkannte, was meine Mutter hier in mich „eingepflanzt“ hatte und ich mich endlich, nach vielen Jahren und mit viel Arbeit davon lösen konnte, gab es einen großen Streit, zu tief saßen die Verletzungen.

      Zu meinem Vater hatte ich glücklicherweise immer ein wirklich sehr gutes Verhältnis, leider ist er vor einigen Jahren gestorben. Wir haben in meinen Kindertagen viel miteinander unternommen, auch wenn er immer viel arbeitete. Er hat mir viel beigebracht, auch handwerklich und ich denke heute, ich war sein Ersatz für den Sohn, den er nicht mehr hatte. Trotzdem war ich als Kind auch viel


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