Der Deutsche. Jens Jessen

Der Deutsche - Jens Jessen


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      Der neue Deutsche sieht sich als etwas ganz anderes: vorbildlich geläutert, von jeder Vergangenheit gereinigt und darum berechtigt, auf seine Geschichte wie auf einen Müllhaufen glücklich entsorgten Gerümpels zu blicken. Jeden Tag preist er dieses Glück. Aber hinter seinem Rücken vollzieht sich ein unablässiges Recycling der alten Ideen und Vorstellungen. Das Weggeworfene gelangt aufgefrischt und wie neu in den Verkehr. Er selbst ist es, der das Wunder hinter seinem eigenen Rücken schwer schuftend vollbringt. Der deutsche Rousseauismus, der die Französische Revolution überlebte, als Traum vom Urkommunismus bei Marx unterschlüpfte, als Wandervogel- und Jugendbewegung im Kaiserreich Mode war, die Blut-und-Boden-Vorstellung der Nazis inspirierte, wird heute als naturbelassener Schafwollpullover gestrickt und als Hafermilch von der veganen Jugend getrunken. Der Yoga-Kurs, das hand-crafted Bier aus der Stadtteilbrauerei, die Impfgegnerschaft, überhaupt der ganze hysterische Gesundheitswahn unserer Gegenwart – was sind sie anderes als die »Reformkleidung« des Fin de siècle, die Eugenik und Propaganda der »Volksgesundheit«, die im vorigen Jahrhundert links wie rechts zu Hause waren?

      Harmloser, könnte man sagen, sind die Wiedergänger. Aber ist Impfgegnerschaft, einschließlich der anhängenden Verschwörungstheorien, wirklich harmlos? Und handelt es sich wirklich um Wiedergängerei – und nicht etwa um einen niemals abgerissenen Traditionsstrom? Auf fällig ist jedenfalls, dass damals wie heute die Ideale von Natürlichkeit und Gesundheit, die von unserer Werbesprache schließlich zum »Naturbelassenen« zusammengeführt wurden, als Ausweis von Fortschrittlichkeit galten. Die deutsche Jugend der Gegenwart fühlt sich mit ihrer Öko- und Bio-Besessenheit so progressiv, dass sie gar nicht merkt, wie reaktionär sie sich verhält. Selten war ein Fortschritt so anschlussfähig an die Vergangenheit.

      Derart pflanzt sich das Deutsche fort. Es ist eine Art Parthenogenese – Selbstbefruchtung mit dem genetischen Material, das in die Rumpelkammer der Geschichte verschoben wurde, aber seine DNA auch dann sofort überträgt, wenn es nur berührt wird – (schein-)kritisch oder verächtlich als überwunden erwähnt wird. Gewiss würde niemand zugeben wollen, dass der chauvinistische Pangermanismus, einschließlich der Nordland-Begeisterung, Norwegen-Fahrerei, Island-Verehrung des 19. Jahrhunderts, noch in Umlauf seien. Aber wäre Greta T hunberg, die Jeanne d’Arc der Umweltbewegung, als Italienerin genauso glaubwürdig wie als Schwedin? Würde eine Aktivistin aus dem »Welschland«2 unsere Vorstellungen von Reinheit, moralischer Makellosigkeit genauso beflügeln wie jenes geschlechtsferne Wesen – fern jeder südlich-sündigen Erotik – aus dem skandinavischen Staat, der ja auch sonst gerne als Vorbild politischer Tugend empfohlen wird? Die Vorzeichen haben von rechts zu links gewechselt, aber das Nordgermanenideal ist geblieben.

      Und aus all dem fügt sich etwas zusammen, was man gerne als längst überwundenes Naziding betrachtet, aber tatsächlich schon lange vor dem Nationalsozialismus bestand und noch heute, lange nach ihm, fortbesteht. Die Konstanz der Motive ist, wie unwillkommen auch immer, schwer zu bestreiten, für klügere Deutsche auch nicht zu übersehen. Man kann sie sich nur vom Hals schaffen, indem man das Attribut »deutsch« zurückweist und auf die Internationalität der Tendenzen verweist, zumal der neueren. Viele der kosmopolitisch gesonnenen Deutschen von heute werden bezweifeln, dass es überhaupt so etwas wie die Deutschen gebe oder eine deutsche Nation.3 Sie wollen sich als nüchterne Positivisten sehen, halten es mit der Wissenschaft und erkennen scharf, dass allem Nachdenken über kollektive Eigenschaften etwas Ideologisches anhaftet. So ist es auch; selbst wenn man das Ideologische von Ressentiments befreit und auf ein intuitives Vorauswissen reduziert, wird man zugeben müssen, dass mit allerlei unbeweisbaren Annahmen, Zuschreibungen, riskanten Extrapolationen und fragwürdigen Deutungen operiert werden muss, wenn am Ende Sätze herauskommen sollen wie »Deutsche fürchten sich vor allem vor Deutschen« oder »Deutsche sehnen sich nach Gemeinschaft, weil sie geborene Außenseiter sind«.

      Ich halte diese Sätze nichtsdestoweniger für richtig. Aber genauso richtig ist, dass sie weder statistisch verifiziert werden können noch einem wissenschaftlichen Kriterium der Falsifizierbarkeit genügen. Unter welchen Bedingungen sollten sie wahr oder falsch werden? Die empirische Sozialwissenschaft hat nie mehr vermocht, als die Zustimmung zu Sätzen solcher Art prozentual zu erfassen – also die Meinung über Meinungen zu ermitteln. Dergleichen Einschätzungen zweiter Ordnung mögen ein Anhaltspunkt sein. Aber Selbsteinschätzungen trügen auch. Von Dostojewski wissen wir, dass sie in der Regel nicht auf eine Wahrheit deuten, sondern auf eine gewünschte Lüge.

      Aber gerade als solche Lügen begriffen, sind sie Indizien der Wahrheit. Man muss nur den Gründen ihrer Attraktivität nachforschen, um die fortlaufende Selbstkritik der Deutschen und ihre ebenso fortlaufende Selbstverharmlosung richtig einzuschätzen und als Zeichen für etwas (meistens) anderes zu verstehen. Weshalb ich sie als Lügen erkenne und über die Motive spekulieren kann? Weil ich Sterndeuter bin oder meine Phantasie nicht zügeln will? Den guten Deutschen, die mir diese Fragen stellen, gebe ich gerne zu: Alles Nachdenken über Deutschland ist schlechte Metaphysik. Ich gebe auch gerne zu, dass meine Sätze vom Standpunkt eines intuitiven Vorauswissens aus formuliert sind, das ich selbst nicht kontrollieren kann – ich müsste denn als Deutscher eine nicht-deutsche Perspektive einnehmen, was schlechterdings nicht möglich ist. Andererseits ist das kulturelle Vorauswissen auch die Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas erkannt werden kann. Es gibt kein Außerhalb einer Lebensform, von dem aus sich diese beschreiben ließe, hat Wittgenstein das Dilemma einmal formuliert.

      Andererseits – so zirkulär die heuristische Situation auch erscheint – gibt es gleichwohl so etwas wie ein empirisches Erlebnis der Außenperspektive. Wir können alles Deutsche als Konstrukt bezweifeln und müssen doch nur ins Ausland gehen, um uns als Deutsche zu erkennen oder, schlimmer noch, als Deutsche erkannt zu werden. Unter Umständen genügt schon die Brille, die wir tragen. Warum tragen wir überhaupt Brillen, die nirgendwo sonst in der Welt als vorteilhaft gelten? Meist genügt zur Identifikation auch eine bestimmte Körperhaltung oder ein Argument, mit dem wir uns verteidigen. Warum halten wir Argumente überhaupt für zielführend? Und was sind das für Ziele? Glauben wir, dass alle solche Ziele haben oder zu haben für nötig befinden? Gerade viele der kosmopolitischen Deutschen werden im Ausland als besonders deutsch und als besonders ungemütlich empfunden.

      Viele dieser Deutschen werden sich damit mehr oder weniger zähneknirschend, vielleicht auch im Sinne einer nun mal zu tragenden historischen Erblast abgefunden haben, aber doch nicht dulden wollen, dass es ihnen auch von Landsleuten (sogenannten Intellektuellen) wieder und wieder vorgesagt wird. Besonders jene, die sich selbst für »gute Deutsche«, nämlich für aufgeklärt und internationalisiert halten, werden erklären, dass sie des kritischen Blicks leid seien, dass es ein für allemal genug sein müsse mit der Selbstzerfleischung, besorgten Selbstbefragung – mit dem depressiven Narzissmus.

      Ihnen muss leider gesagt sein, dass gerade diese quälende und verquälte Nabelschau eine echt deutsche – ächt altdeutsche – Tradition ist, die genau in dem Moment auf blühte, als sich am Krankenlager des Heiligen Römischen Reiches zum ersten Mal so etwas wie eine deutsche Nation in einem anderen als bloß staatsrechtlichen Sinne zeigte.

      Der Autor, der sich in jene Tradition einreiht, folgt dabei keinem anderen Motiv als dem altehrwürdigen. Es ist kein Selbsthass, es ist im Gegenteil eine notwendige Übung der Selbstachtung, von Zeit zu Zeit niederzulegen, dass dem Deutschen selbst die Fragwürdigkeiten (auch die Abscheulichkeiten) seiner Nation nicht verborgen bleiben.4 Unerreichbares Vorbild ist hier Stendhal, der bekanntlich nicht müde wurde, Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Herzenskälte der Franzosen seiner Zeit zu benennen. Seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Konventionen des Sagens, er nannte es mit dem Lieblingswort Désinvolture, bleibt ein Ideal jeder Selbstbeschreibung und ermutigt mich, auch unseren zeitgenössischen Betschwestern5 der Political Correctness keinerlei Zärtlichkeiten zu erweisen.

      Letztlich ist es eine Frage der Ehre. Sie besteht darin, sich jederzeit distanzieren zu können, vor allem von sich selbst. Niemand ist zu einer Identität gezwungen. Oder anders gesagt: Sie ist, wo sie behauptet wird, ein selbstgewählter Fluch.

      Im folgenden wollen wir nichts weiter, als uns diesen Fluch einmal näher anzuschauen – wie er sich über die Generationen fortpflanzt, wie er das Leben des Deutschen in der Herde bestimmt und wie er die Verteidigung


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