Der Deutsche. Jens Jessen
einer durchwachten Nacht, vielleicht einer durchzechten Nacht, im Zustand des Katers vielleicht, der jene Überwachheit erzeugt, die schon E. T. A. Hoffmann für eine Voraussetzung erfolgreicher Gespensterseherei betrachtete. Auf ins Revier! Vertrauen Sie mir, ich werde Ihnen alle erforderlichen Hinweise geben. Aber ziehen Sie sich warm an. Es ist kalt, der Himmel grau, wahrscheinlich regnet es bald. Imbissbuden säumen den Weg vom Bahnhof in die Stadt, Tauben suchen Platz auf den kunstreich stachelbewehrten Simsen der Bürohäuser, Obdachlose schlafen noch auf den Lüftungsschächten der Kaufhaustore. Aber siehe da, wir müssen nicht lange warten – und das Gespenst erscheint.
Im Revier
WENN man ihn – den Geist, den Wiedergänger – so die Straße herunterkommen sieht, an diesem grauen Alltagsmorgen, den Blick erhoben, aber den Körper nicht gestrafft, eher trottend als schreitend, irgendwie bekleidet, aber nicht angezogen, die Haare geschnitten, aber nicht frisiert, dann könnte man ihn für einen Träumer halten, einen Idealisten, Intellektuellen, dessen Gedankenwelt über alle Äußerlichkeiten gesiegt hat. Es ist jedoch ein Trug. Der Deutsche, den wir aus der grauen Masse von Passanten in einer grauen Großstadt herausgegriffen haben, kann in derselben Aufmachung (oder vielmehr Nicht-Aufmachung), mit derselben weltverlorenen Miene genauso gut an seine gestohlene Bürotasse, die Börsenkurse, einen Autokauf oder elektrisierende neue Möglichkeiten des Steuerbetrugs denken. Er ist abwesend, er träumt. Aber dass er träumt, sagt nichts über die Würde seiner Träume. Das gleichgültige Äußere, der seltsam unvorteilhafte Gang, der Mangel an Beobachtung seiner Umgebung, überhaupt der Verzicht auf präsente Haltung, sind weder notwendige noch hinreichende Zeichen von höheren Zielen.
Hier liegt eine Hauptquelle aller Missverständnisse über Deutsche in der Welt. Wenn, sagen wir einmal, Lateinamerikaner einem solchen Tropf begegnen, werden sie sofort geneigt sein, ihn für einen höchst seriösen Menschen zu halten, mit moralischen Prinzipien und von äußerster, vielleicht fast lächerlicher Zuverlässigkeit. Selbstverständlich werden sie ihn nicht ernst nehmen – womöglich als geborenes Opfer sehen. Aber darin könnten sie sich wiederum gefährlich täuschen. Der unelegante Deutsche kann auch ein höchst gerissener Geschäftsmann sein, ein Aufschneider, Hochstapler, Waffenhändler. Überall in der Welt neigt die Tugend dazu, sich in härene Gewänder zu kleiden, nur in Deutschland nicht. Hier gehen alle in Sack und Asche, selbst die giftigste Schlange verzichtet auf ihr buntes Schuppenkleid.
Das muss man wissen, um sich zu orientieren. Die leichtsinnigsten Hallodris (die es bei uns genauso gibt wie andernorts) können ganz graumäusig, in fabelhaft schlechtsitzenden Anzügen oder grotesk verwaschener Freizeitkleidung auf treten. Oberflächlichkeit lässt sich bei Deutschen nicht an der Oberfläche erkennen. Hier ist alles Tarnung, und selbst die Tarnmuster unterscheiden sich kaum. Man könnte sagen, Deutschland ist die Urheimat der Heuchelei, und für einen schreckhaften Moment, in der Bismarckzeit, hat dies auch das Ausland so gesehen, das bisher die Deutschen für die biedersten aller Biedermänner gehalten hatte. Die geradezu überirdische Geschicklichkeit und Tücke Bismarcks öffnete allen die Augen.
Indes wäre es, in gewisser Hinsicht, nicht gerecht, alle Deutschen, und erst recht die heute lebenden, mit der Verlogenheit Bismarcks zu belasten. Im übrigen war er seinerzeit auch nicht gar so schlecht gekleidet wie deutsche Politiker heute, auch nicht so ungeschliffen, als junger Diplomat sogar bewundertes Vorbild internationaler Kollegen. Der Kern der Heuchelei lag und liegt noch immer überhaupt in keiner bewusst gewählten Camouflage. Der Kern liegt in jener Verachtung von Äußerlichkeiten, die vielleicht einmal ein protestantisches Tugendideal war, dann als romantische Innerlichkeit umformuliert wurde und sich schließlich in dem Ideal der Natürlichkeit verschlüsselte.
Nichts könnte dem Selbstverständnis der Deutschen ferner liegen, als sich verstellen zu wollen. Der Zusammenhang bildet sich vielmehr umgekehrt: Gerade weil die Deutschen schon Liebenswürdigkeit und Manieren für Heuchelei halten, für falschen Schein, und deshalb ablehnen, können sie die Heuchelei, die in ihrer Unscheinbarkeit liegt, nicht erkennen.
Der biedere Deutsche ist ein Zivilisationsprodukt, Erzeugnis einer Gesellschaft, die aller Raffinesse misstraut. Das hat nichts mit der brutalen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun, in der es gewiss ein Zuviel an Inszenierung, an Kinoeffekten, Militärparaden, Massenaufmärschen und Phantasieuniformen, ganz allgemein an »Lametta« gegeben hat, wie Loriot das in seinem berühmten Sketch genannt hat. Die Graumäusigkeit ist nicht das Ergebnis eines Reinigungsprozesses – eben kein Büßergewand, kein Signal von Läuterung. Es reicht, sich in der ferneren Vergangenheit umzusehen, damit sich ein ähnlicher Befund einstellt – in den Schilderungen Stendhals aus seiner Zeit als napoleonischer Kriegskommissar in Braunschweig oder, noch viel früher, in der ungeschickten Figur, die Liselotte von der Pfalz am Hofe Ludwigs XIV. machte. Die berüchtigten zwölf Jahre der jüngeren deutschen Geschichte müssen nicht herangezogen werden, um in der Gesellschaft der Völker eine gewisse linkische Gestalt auszumachen, die manchmal bewundert, aber selten angesprochen und nie in den heiteren Kreis der anderen gezogen wird. Sie erinnert an den einsamen Streber auf dem Schulhof, dem man gute Noten, aber ebenso allerlei Finsteres zutraut, was er dann auch zuverlässig liefert.
Der Deutsche, wenn er so an einem Alltagsmorgen, sagen wir, die Frankfurter Zeil, die Hamburger Mönckebergstraße, den Berliner Tauentzien oder irgendeine andere dieser trostlos grauen Großstadteinkaufsmeilen entlangtrottet, ist also eine historisch sattsam bekannte Gestalt. Er wird es nicht wissen, er wird sich vielleicht sogar gesteigert modern, zeitgenössisch und fortgeschritten fühlen; wie er denn überhaupt von seiner ferneren Herkunft und näheren Umgebung nur selten Notiz nimmt. Deswegen weicht er auch jetzt, wo sich die Straße langsam und unaufhaltsam mit seinesgleichen füllt, nur selten aus, wenn ihm jemand entgegenkommt.
Streng genommen kommt ihm auch niemand entgegen, sondern immer nur in die Quere. Der Deutsche ist ganz und gar in sich gefangen, das ist der Grund seiner oft behaupteten Rücksichtslosigkeit. Sie ist nicht eigentlich bös’ gemeint – er möchte nur Kurs halten. Man könnte sagen, er bewegt sich auch durch die Zivilisation wie Robinson auf seiner Insel.
Wenn er die Augen höbe – aber er hebt sie nicht –, würden sie auf die Landsleute fallen, die wie er auf dem Weg ins Büro sind und wie er nur Kurs halten, nichts sonst im Schilde führen. Hinter ihnen die Fassaden genauso grauer, genauso schmuckloser Häuser, die entlang der Straßenflucht Kurs halten, Kurs auf die Rendite ihrer Eigentümer. Auch sie wollen nichts anderes als ihre Schuldigkeit tun, keinesfalls irgend etwas darüber hinaus, keine Schönheit, keine Überraschung, keine Freude oder auch nur den anekdotischen Reiz eines überraschenden Erkers entfalten. Diese Gebäude sind vollendete Demut – Demut vor ihrer Funktion, Büros, Geschäfte, Arbeitsplätze zu beherbergen. Es wäre vermessen, ihre armselige Gestalt auf die seinerzeit exquisite Bauhaus-Ästhetik zu beziehen. Nicht die Bauhaus-Architektur hat sich in ihnen verwirklicht, sondern nur der Bauhaus-Gedanke, dass die Form der Funktion zu folgen habe. Darum ist die Form trostlos, weil die Funktion trostlos ist. Sie erschöpft sich darin, Glied in der Kette des Wirtschaftskreislaufes zu sein.
Übrigens entfaltete sich auch in der Bauhaus-Idee das Dogma der Natürlichkeit, mit dem paradoxen Resultat, dass Baukörper von einer Kantigkeit entstanden, die ohne organisches Vorbild sind. Das ist aber kein Widerspruch in der Theorie; der Natürlichkeitsbegriff des Bauhauses ist ganz abstrakt, eine Art Tugendideal ehrlichen Bauens. Organische Formen wären Lüge; die »Natur« des Architektonischen (so etwas wie dessen innere Bestimmung) besteht darin, Gehäuse zu schaffen und keine florale Landschaft.
So ist vieles von dem, was in der deutschen Zivilisation wie eine Kette des Missglückten, Zufälligen, Ungehobelten, wenn nicht Barbarischen erscheint, tatsächlich das Ergebnis tiefen Nachdenkens. Es ist fast tragisch, aber bei all den hässlichen Plätzen, trostlosen Bushaltestellen, unvorteilhaften Brillen und wenig kleidsamen Kleidungsstücken muss immer damit gerechnet werden, dass sie keinem Unvermögen, sondern einer höheren Vernunft, bürokratischen Vorschrift oder sogar raffinierten Berechnung gehorchen. Die grotesk unstrukturierten Hamburger Plätze, eigentlich bloß freigeräumte Straßenkreuzungen, mit ihren zurückgesetzten Eckhäusern, verrutschten Straßenfluchten, sind zum Beispiel keine Kriegsfolge, sondern Folge des Wiederaufbaus und seiner stadtplanerischen Vorgabe, für freie Luftbewegung zu sorgen.