Das Leichenpuzzle von Anhalt. Bernd Kaufholz
INHALT
VORWORT
»Back to the roots« – unter diesem Arbeitstitel habe ich mich 2017 auf die Spurensuche nach Kriminalfällen begeben, die in der DDR im Bezirk Halle für Aufsehen gesorgt haben.
»Zurück zu den Wurzeln« deshalb, weil ich mit meinen letzten zwei Büchern »fremdgegangen« bin. Nach den authentischen Kriminalfällen zwischen 1999 und 2010, die sich zum größten Teil mit wahren Fällen im Bezirk Magdeburg beschäftigt haben, war es die Familienanwältin und Privatdetektivin Tanja Papenburg, die sich auf Mördersuche begeben hat.
Ganz aus der fiktiven Luft gegriffen war die Handlung dieser beiden Bände jedoch auch nicht. Denn die Geschichten hangelten sich mehr oder weniger an zwei Nachwende-Fällen in Sachsen-Anhalt entlang, die bis heute ungeklärt sind.
Doch vor gut einem Jahr bekam ich die Gelegenheit, erneut nach DDR-Fällen graben zu können. Diesmal lag mein Fokus auf dem Süden Sachsen-Anhalts.
Das »Leichenpuzzle von Anhalt« schaut auf einen Zeitraum zwischen 1948 (damals noch sowjetisch besetzte Zone) und 1990 zurück. Die neun Fälle beleuchten Taten, die es nach sozialistischer Staatsdoktrin so gar nicht gegeben haben durfte. Bis auf wenige Straftaten, die für dermaßen große Unruhe unter der Bevölkerung gesorgt haben, dass sie nur schwer zu deckeln waren, erfuhr die Bevölkerung kaum etwas von diesen Geschehnissen.
Mit den Fällen werden nicht nur die Straftaten geschildert, die Motive der Täter beschrieben sowie Zeugen und Opfer charakterisiert, sie sind auch ein Stück Zeitgeschichte und werfen ein Licht auf die Arbeit der damaligen Ermittler.
Die Chronologie beginnt mit einem Mord in Bad Bibra im südlichsten Zipfel Sachsen-Anhalts. Dort wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Polizist erschossen. Wie die Jagd nach dem Schützen damals ablief, die sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, beschreibt dieser Teil des Buches.
Der Titelfall ist ein ungewöhnlicher, schildert er doch, wie ein Mordopfer zerstückelt wurde, um es so besser verschwinden lassen zu können. Eine weder damals noch heute alltägliche Tat. Ein ähnliches »Nachtatverhalten« kenne ich nur aus einem Fall aus dem Jahr 1980. Als ein 17-Jähriger gemeinsam mit seiner doppelt so alten Geliebten in Wolmirstedt deren Ehemann ermordete, und dem »Kettensäger-Fall« von 2005, bei dem ein Magdeburger seine Freundin zerstückelt hatte.
Eine politische Dimension hat ein Rentnermord aus dem Jahr 1988. Vierzehn Jahre nach der Verurteilung des Täters aus Bernburg widmete sich Ministerpräsident Reinhard Höppner der Sache und wirbelte damit ziemlich viel Staub auf.
Abschließend ist es mir noch ein Bedürfnis, mich bei der Staatsanwaltschaft Halle für ihre Unterstützung bei dem Buchprojekt bedanken. Ohne die Leitende Oberstaatsanwältin Heike Geyer und Staatsanwalt Hendrik Weber wäre das nun vorliegende Buch nicht gedruckt worden.
Bernd Kaufholz
Oktober 2018
Mit Sternchen (*) versehene Namen in den Kriminalfällen wurden vom Autor geändert.
DER TOD
DES OBERWACHTMEISTERS
Am 18. Februar 1948 kontrollieren Schutzpolizisten des Ortspolizeiamtes Bad Bibra in den Abend- und Nachtstunden die Straßen der Kleinstadt. In jüngster Zeit hatte es im Ort mehrere Einbrüche gegeben. Außerdem sehen sie auf Befehl ihrer vorgesetzten Dienststelle in Naumburg in den Lokalen der Umgebung nach dem Rechten.
Nach 21.30 Uhr lassen sich Polizeioberwachtmeister Kurt Jöck und Bruno Ragnitz auch in Steinbach, einem Örtchen wenige Kilometer südlich von Bad Bibra, von einigen Männern und Frauen, die sich im »Gasthaus Rühe« vergnügen, die Papiere zeigen. Der Hinweis, dass sich bei den beliebten Tanzveranstaltungen auch die eine oder andere zwielichtige Gestalt herumtreibt, war von Hermann Kleinsimon, dem Bürgermeister Bad Bibras, gekommen. Und das Ortsoberhaupt der Stadt nahe der Landesgrenze zum Thüringischen hat es sich auch nicht nehmen lassen, selbst an der Kontrolle teilzunehmen.
Doch in der Nacht zum 19. Februar ist alles in Ordnung. Kleinsimon und die beiden Schutzpolizisten fahren mit dem Dienstwagen des Bürgermeisters kurz nach Mitternacht zum staatlich anerkannten Erholungsort zurück. Am Steuer sitzt Arthur Paul*. Der 47 Jahre alte Montageleiter wird immer dann von der Stadtverwaltung angefordert, wenn ein Kraftfahrer benötigt wird. Routiniert lenkt er den Wagen durch den heftigen Schneesturm, der in der Zwischenzeit eingesetzt hat, und hält mit dem Pkw 0.15 Uhr unmittelbar hinter dem Bahnübergang in der Steinbachstraße. Der Bürgermeister wohnt nur ein paar Schritte entfernt. »Naja, das war wohl heute nichts«, verabschiedet er sich bei Jöck und Ragnitz. »Aber vielleicht sind die Leute ja schlauer geworden und führen jetzt alle ein ordentliches Leben.« Als er die verdutzten Blicke der Polizisten sieht, lacht er laut auf: »Das ist natürlich nicht mein Ernst. Also dann, bis demnächst. Und noch einen ruhigen Dienst.« Dass er einen der Wachtmeister zum letzten Mal sieht, ahnt Kleinsimon in diesem Augenblick nicht.
Der Tatort, das Ortspolizeiamt in Bad Bibra.
Vor den Schreibtischen liegt der erschossene Polizist.
Bereits als er angehalten hat, ist Arthur Paul ein Auto aufgefallen, das auf dem linken Bürgersteig in Richtung Stadt steht. Der Dienstwagenfahrer sieht den Bürgermeister auf das Fahrzeug zugehen und hört, wie das Fenster heruntergekurbelt wird. Trotz des Schneesturms kann Paul verstehen, dass der Fahrer dem Bürgermeister erzählt, er komme nicht weiter, weil die Batterie den Geist aufgegeben habe. »Ich schlafe erstmal im Auto. Früh sehe ich dann weiter«, hört Paul den Mann hinter dem Lenkrad sagen. Mit dieser Erklärung gibt sich das Ortsoberhaupt zufrieden und geht in Richtung seiner Wohnung.
Doch den beiden Polizisten kommt die Sache nicht geheuer vor. Sie steigen beide aus, um den Fahrer zu kontrollieren. Auch ihnen erzählt der Mann im Auto die Geschichte von der streikenden Batterie. »Wo kommen Sie so spät in der Nacht her?«, will Jöck wissen. »Aus Naumburg«, so die Antwort. Doch dann korrigiert sich der Mann: »Ich meinte natürlich aus Camburg.« Das Misstrauen der Wachtmeister wird stärker, denn das Fahrzeug steht genau in der anderen Fahrtrichtung. Jöck hakt nach: »Nun noch mal: Woher kommen Sie?« Der Gefragte bietet eine dritte Version an: »Aus Eckartsberga.«
Das reicht, um Jöcks Misstrauen weiter zu steigern,