Das Leichenpuzzle von Anhalt. Bernd Kaufholz
der Polizist selbst hinters Steuer und tritt den Starter durch. Der Motor springt sofort an. »Glück gehabt«, sagt der Mann mit den zum Mittelscheitel gekämmten brünetten Haaren.
»Bitte begleiten Sie uns zum Polizeibüro. Wir müssen den Sachverhalt klären«, so Jöck. Oberwachtmeister Ragnitz setzt sich auf die Hinterbank, der Autobesitzer neben Jöck auf den Beifahrersitz. Die drei Männer folgen im Privat-Pkw Arthur Paul, der den Dienstwagen der Stadt zum Büro in der Schenkenbergstraße steuert.
Im Dienstraum der Polizisten verlangt Ragnitz die Papiere des Mannes. Kraftfahrer Paul beobachtet an den Türrahmen gelehnt, wie der Mann, der hinter dem rechten Schreibtisch sitzt, dem Polizisten am gegenüberstehenden Schreibtisch zwei Dokumente reicht – die Fahrpapiere für Pkw und Motorrad. Ausgestellt sind sie auf den Namen Bruno Priest* aus Camburg in Thüringen. Ragnitz wiederholt die Frage, was er so spät in Bad Bibra zu suchen habe. »Ich will zu meinem Bruder nach Nebra zum Tabakschneiden«, antwortet Priest. Auf die folgenden Fragen antwortet der 30-Jährige auffällig widersprüchlich. Ragnitz hakt nach: »Sie sind doch sicher nicht allein gekommen?« Als Priest auch das vehement abstreitet und sich weiter in Widersprüche verstrickt, entscheidet Ragnitz, den 30-Jährigen bis zum nächsten Morgen im Revier zu behalten. Jöck erklärt dem Verdächtigen: »Bis spätestens drei Uhr wissen wir, ob Sie die Wahrheit gesagt haben. Wir bringen Sie jetzt in die Zelle.«
Ragnitz steht hinter dem linken Schreibtisch auf und geht in den Vorraum, um das Vorhängeschloss für die Arrestzelle zu holen. Als er zurückkommt, stellt er sich an den kleinen Schreibmaschinentisch neben dem linken Schreibtisch: »Folgen Sie mir!« Arthur Paul öffnet die Tür zum Vorraum, und tritt zur Seite. Jöck hält Ragnitz kurz zurück und sagt: »Lass uns erstmal die Taschen durchsuchen.«
In diesem Moment steht Priest auf und greift in die rechte Außentasche seines Mantels. Die Polizisten sind überzeugt, dass er seine Taschen entleeren will, doch Priest zieht eine Pistole und schießt sofort zweimal auf Ragnitz, der direkt vor ihm steht. Dann richtet er die Waffe auf Jöck und gibt mehrere Schüsse ab.
Sofort stürzt Ragnitz getroffen zu Boden. Jöck macht eine halbe Drehung nach rechts, bevor auch er zusammenbricht. Der Schütze schnappt sich die Papiere, die noch auf dem Schreibtisch liegen, und entwendet Ragnitz’ Dienstwaffe aus dem Holster.
Paul gerät in Panik. Er rennt auf die Straße und versteckt sich hinter dem Nachbarhaus. Nach zwei, drei Minuten sieht er, wie Priest aus dem Revier kommt und zum Auto geht, das gegenüber dem Rathaus auf der Straßenseite in Richtung Kölleda steht. Der Wagen springt sofort an. Der Täter rast Richtung Naumburg davon.
Es ist 0.45 Uhr, als Paul zurück ins Polizeibüro eilt. Unmittelbar an der Tür zum Dienstraum liegt Jöck auf dem Rücken. Rechts neben dem Schreibtisch Ragnitz. Beide regen sich nicht. Der Kraftfahrer kniet sich erst neben den 28 Jahre alten Jöck, dann neben Ragnitz. Beide sind zwar bewusstlos, aber atmen noch.
Paul läuft auf die Straße, um Hilfe zu holen. Dabei trifft er auf Ewald Bruns*, der über den Diensträumen wohnt. »Laufen Sie zu Frau Dr. Hamann«, ruft er ihm zu. »Die beiden Polizisten wurden angeschossen.« Doch die Ärztin öffnet nicht, und Paul muss vom Revier aus einen anderen Arzt anrufen. Kostbare Zeit geht verloren. Als der angeforderte Mediziner Dr. Holter eintrifft, ist Ragnitz wieder bei Bewusstsein und sitzt stöhnend vor Schmerz auf einem Stuhl. Bei Jöck kann der Mediziner jedoch nur noch den Tod feststellen.
Die vier tödlichen Schussverletzungen
Gegen 1.30 Uhr klingelt bei Bürgermeister Kleinsimon das Telefon. Völlig aufgelöst erzählt ihm Paul, was sich im Polizeirevier zugetragen hat. Der 53-Jährige zieht sich schnell etwas über und geht zum Ortspolizeiamt. Dort verständigt er die Polizeidienststelle des Kreises in Kölleda. Kriminalobersekretär Bergmann und Kreisamtsleiter Grunatowski machen sich auf den Weg nach Bad Bibra. Telefonisch meldet Kleinsimon den Fall inzwischen ebenfalls dem Landpolizeiposten Burckersroda. Er teilt mit, dass der Täter ein gewisser Priest aus Camburg ist. »Aber passen Sie auf, der Täter hat zwei Pistolen dabei. Er hat nichts mehr zu verlieren.«
Um 3.48 Uhr geht in der Abteilung Mordkommission I in der Kriminaldirektion Halle eine sogenannte Ereignismeldung ein, die den nächtlichen Sachverhalt schildert. Kriminalobersekretär Schnelle und seine Mannschaft fahren nach Bad Bibra. Der erschossene Oberwachtmeister liegt noch im Revier, der schwerverletzte Ragnitz wartet indes immer noch auf den Transport ins Naumburger Krankenhaus. Ein Krankenwagen konnte »nicht beschafft werden«, wie es im Protokoll von Schnelle heißt. Kurz entschlossen wird Ragnitz mit dem Dienstwagen der Mordkommission zur Klinik gefahren.
Der Rücken des Ermordeten mit drei Austrittswunden
Am Tatort können die Mordermittler an Jöcks totem Körper vier Einschüsse feststellen: unter dem Kinn in der Mitte des Halses, an der rechten Halsseite, unter der rechten Achselhöhle und in der linken Brusthälfte. Drei Austrittswunden werden im Nacken und im Bereich des rechten und des linken Schulterblattes gefunden. Das vierte Projektil ist nicht ausgetreten. Der Steckschuss in die Brust habe wahrscheinlich das Herz getroffen und so zum Tod des Oberwachtmeisters geführt, notiert Kriminalobersekretär Schnelle.
Die Untersuchung im Krankenhaus von Naumburg ergibt, dass Ragnitz’ Oberarm von einem Projektil getroffen wurde. Die Verletzungen sind zwar schwer, aber nicht lebensgefährlich. Während die »Mord I« in Bad Bibra ermittelt, warten Beamte in Camburg vor der Wohnung des Schlossers Bruno Priest, um ihn festzunehmen. Wie sich später herausstellt, sind sie zu spät. Der Polizistenmörder war bereits gegen 5 Uhr, lange vor dem Eintreffen der Schutzpolizei, mit einem seiner Brüder in der Wohnung, hatte sich dort in großer Eile umgezogen und sie dann schnell wieder verlassen. Im Protokoll heißt es: »Es ist davon auszugehen, dass der Tatverdächtige über die Grenze in die Westzone flüchten will.« Das Kriminalamt in Weimar wird informiert und um »Mitfahndung« gebeten. Die Meldung wird an die Grenzstellen Heiligenstadt, Eisenach und Ellrich weitergeleitet. Dazu gehört auch die genaue Personenbeschreibung: »1,80 Meter groß, langes, schmales Gesicht, lange Haare, Fassonschnitt, längliche Nase, brünettes Haar, Mittelscheitel.«
Auch nach Bruno Priests Bruder Erich wird gefahndet. Inzwischen wird vermutet, dass der 27-Jährige an der Tat beteiligt war.
Fünf Tage nach den Schüssen, am Vormittag des 23. Februar, werden die Mordermittler in Bad Bibra von einer Mitteilung vom Ortspolizeiamt Camburg überrascht. Darin heißt es: »Die flüchtigen Brüder Erich und Ernst Priest haben sich in Camburg gestellt.« Die Aussage der Geschwister wird zitiert: »Wir drei Brüder waren am Freitag (20. Februar) in Naumburg und haben Bruno veranlasst, die Waffen abzugeben. Wir sind danach gemeinsam bis Saalfeld gefahren, dort haben wir Bruno alleine gelassen.«
Die Brüder sagen darin außerdem aus, dass Bruno nach München wollte. Sie sollten seiner Ehefrau mitteilen, dass sie alles stehen- und liegenlassen und sofort in die bayerische Landeshauptstadt kommen solle.
Außerdem werden die bislang ahnungslosen Beamten über die Vorgänge der letzten Tage informiert: Tatsächlich wurde von der Kriminaldienststelle Kölleda eine Meldung über eine Waffenabgabe an das Kriminalamt Halle weitergegeben. Der darin enthaltene Bericht deutet allerdings nicht grade auf saubere Arbeit der ermittelnden Organe hin. Im Aktenvermerk wird vom »21. Februar« gesprochen und davon, dass »die beiden Waffen durch Ernst und Erich Priest in Naumburg bei der Amtsanwaltschaft« abgegeben wurden. Und obwohl der Amtsanwaltschaft bekannt ist, dass »Waffensachen reine Angelegenheit der zuständigen Operativgruppe oder der Kriminalpolizei sind, wurden die Waffen ohne Vernehmungsverhandlung hinterlegt.«
Patronenhülse und Geschoss vom Kaliber 7,65 mm
Laut Bericht handelt es sich bei den Pistolen um eine » ›08‹ mit Magazin und sechs Schuss Munition sowie einen angerosteten ›Browning‹ mit Magazin und zwei Schuss Munition«.
Es wird weiterhin hervorgehoben, dass die Beamten der Kriminaldienststelle