Das Leichenpuzzle von Anhalt. Bernd Kaufholz
NKWD, von dem sie zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden. Erich Priest gelingt 1953 die Flucht aus dem Gefängnis Gräfentonna bei Gotha in Thüringen.
Am 20. November 1948 wird das Ermittlungsverfahren gegen Bruno Priest eingestellt.
In einem Schreiben des Oberstaatsanwalts der Stadt Halle an den Leiter der Mordkommission des Präsidiums der Saalestadt wird der Fall aber zwei Jahre später wieder thematisiert. Darin kritisiert der Oberstaatsanwalt, dass der Mord an den Polizisten immer noch ungesühnt ist, und erkundigt sich, ob die Ermittlungen gegebenenfalls wieder aufgenommen werden könnten. Die Antwort des Moko-Chefs lautet: »Infolge allgemeiner Arbeitsüberlastung konnten in der Mordsache Jöck bisher noch keine weiteren Ermittlungen getätigt werden.«
Zwei Jahre später wird der Fall ins Deutsche Fahndungsbuch des Bundeskriminalamtes aufgenommen. Allerdings lediglich als »Aufenthaltsermittlung«, da »kein beglaubigter Haftbefehl aus der DDR vorliegt«.
Die Jahre vergehen, und die Kriminalisten, die 1948 mit dem Polizistenmord in Bad Bibra zu tun hatten, gehen nach und nach in den Ruhestand. Fast 40 Jahre später, im September 1987, kommt dennoch ein letztes Mal Bewegung in den Fall. In einer »Verfügung« der Staatsanwaltschaft Halle an den Kripo-Leiter der Volkspolizei-Bezirksbehörde heißt es unter anderem: »In den folgenden Jahren sind die Fahndungsausschreibungen zur Verhaftung mehrfach verlängert worden, die letzte Verlängerung erfolgte 1984, ohne dass weitere Prüfungshandlungen vorgenommen wurden, ob Priest überhaupt noch am Leben ist.« Es wird darauf verwiesen, dass erneut Ermittlungen angeschoben werden müssen, um den Aufenthaltsort des Gesuchten festzustellen beziehungsweise die Frage zweifelsfrei zu beantworten, ob der inzwischen 70-Jährige noch lebe. Aus den Akten werden fünf Punkte zitiert, die mögliche Hinweise für die Ermittlungen sein könnten. Der vielversprechendste ist eine Liste mit Personen, darunter die Ehefrau Priests, die eventuell Angaben über seinen Verbleib machen können. »Die Ermittlungen müssten bis zum 31. Oktober 1987 abgeschlossen sein, da dann zu entscheiden ist, ob eine neue Fahndungs-/Verhaftungsausschreibung erfolgen muss«, endet das Schreiben an VP-Oberst Amler.
Einen Tag vor Ablauf der Frist wird der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass »die im Oktober geführten Ermittlungen (…) keine neuen Hinweise ergeben haben«. Es sei mit 16 Verwandten des Polizistenmörders gesprochen worden. Keiner der noch in der DDR lebenden Befragten habe ein Lebenszeichen vom Gesuchten erhalten. »Es kann vermutet werden, dass Bruno Priest nicht mehr am Leben ist«, schreibt Kripo-Major Löser.
Ende 1994 glaubt die Staatsanwaltschaft Halle, nach nunmehr 46 Jahren, die Identität Priests festgestellt zu haben. Staatsanwalt Wölfel schreibt in seinem Bericht am 30. Januar 1995, dass Recherchen im Falle des Polizistenmordes den »dringenden Verdacht« ergeben hätten, dass ein gewisser »Hugo Walter Heinz Freitag in Dortmund unter falschem Namen gelebt hat«. Doch auch diese Hoffnung zerschlägt sich. Eine Verwandte des Gesuchten identifiziert Priest auf den Fotos, die ihr vorgelegt werden, nicht.
Im Jahr 2000 wird die Fahndung endgültig eingestellt. Staatsanwalt Hendrik Weber beantragt 2007 eine letzte Frist für zehn Jahre. 2017 werden die Akten dem Landeshauptarchiv in Merseburg übergeben. Bruno Priest, der Polizistenmörder von Bad Bibra, wäre in dem Falle, dass er noch lebt, zu diesem Zeitpunkt 100 Jahre alt gewesen.
DER SACK UNTERM KOHLEHAUFEN
Richard Räder* sitzt am Freitag, dem 22. Mai 1953, im Kommissariat Kriminaltechnik in Halle Polizeimeister Rasch gegenüber. »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagt der 43-Jährige. »Am 20. Mai ist meine acht Jahre alte Tochter Helga nicht nach Hause gekommen. Sie sollte gegen 10.45 Uhr für eine Mieterin unseres Hauses im Kuttelhof eine Brause kaufen. Von diesem Weg zur Herrenstraße ist sie nicht zurückgekommen. Ich weiß nicht, wo sie sein könnte.«
»Wer ist die Bürgerin, für die Ihre Tochter einkaufen sollte?«
»Es handelt sich um Fräulein Ruth Banse*, die in unserem Haus wohnt. Sie kam am 20. Mai zu mir und sagte, dass sie schon eineinhalb Stunden auf Helga wartet.«
Vielleicht sei sie bei der Hitze baden gegangen, vermutet der Vater. »Sie hat wie im letzten Jahr einen Dauerbadeschein und badet öfter im Pionierpark auf der Peißnitz.«
»Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter dabei? Und dann brauche ich noch eine Personenbeschreibung«, sagt der Polizeimeister.
Räder zieht ein Foto aus seiner Brieftasche und gibt es Rasch. »Helga ist schlank. Sie hat hellblondes Haar, links gescheitelt. Ihre Augenfarbe ist graublau, ihr Gesicht eher oval.«
»Und das Gebiss?«
»Lückenhaft.«
»Was hatte Ihre Tochter an, als sie das Haus verließ?«
»Eine schwarze Turnhose und einen rosa Schlüpfer. Kein Oberteil und keine Schuhe.«
Nachdem die Vermisstenanzeige aufgenommen wurde, informiert Unterwachtmeister Hesse gegen 15 Uhr Wasserschutz- und Transportpolizei. Das Jugendlager auf der Peißnitz-Insel wird in Kenntnis gesetzt. Die Leitung kann allerdings nicht weiterhelfen. Helga ist dort nicht gesehen worden.
Helga Räder
Die Behörde in Halle schickt Fernschreiben an die Volkspolizeikreisämter in Bernburg, Merseburg, Eisleben, Köthen und Bitterfeld. Der Vorgang wird »zur weiteren Bearbeitung dem Kommissariat Allgemeine Kriminalität übergeben«.
Erste Ermittlungen in dem Vermisstenfall ergeben, dass das Mädchen das letzte Mal im Geschäft »Prenzlau« in der Herrenstraße gesehen wurde. Begleitet wurde sie dabei von der Tochter der Familie Krausche*. Die Freundin erzählt der Polizei, dass es im Geschäft in der Herrenstraße keine Limonade gegeben habe, und Helga dann ein paar Häuser weiter zum Konsum gegangen sei. Die Verkäuferinnen bestätigen, dass das Kind dort gewesen ist.
Else Räder*, die Mutter der Vermissten, antwortet auf die Frage, ob sie den Verdacht habe, dass jemand etwas mit dem Verschwinden Helgas zu tun haben könnte: »Eine Beschuldigung gegen jemanden kann ich nicht aussprechen. Ich kann nicht bestimmt sagen, dass ihr jemand etwas angetan hat. Eines möchte ich aber noch angeben: Mein Kind fährt sehr gerne mit Autos mit.«
Die 39-Jährige ist überzeugt davon, dass Helga »nur mit Menschen mitgeht, die sie kennt«. Dann äußert sie doch noch einen Verdacht: »Ich kenne einen Paul Wolff*, der früher neben uns im Kuttelhof gewohnt hat. Jetzt wohnt er in der Leipziger Straße, und er liegt mit seiner Frau in Scheidung. Es ist möglich, dass er Helga getroffen hat, und sie mit ihm gegangen ist, weil sie ihn kennt.«
Die Kripo ermittelt, dass Wolff wegen Sittlichkeitsdelikten vorbestraft ist. Richard Räder erinnert sich daran, dass er den beschäftigungslosen Epileptiker am Tag des Verschwindens seiner Tochter gegen 11.20 Uhr unter dem Fenster seiner Wohnung im Kuttelhof vorbeigehen sah.
Die Aussagen der Eltern sind für Rasch, den zuständigen Meister der Volkspolizei von der Abteilung Kriminaltechnik, Grund genug, Paul Wolff vorzuladen. Bereits um 17 Uhr wird er im Kommissariat AK 1 des Kreisamtes verhört. Bevor er zu dem Verschwinden des Mädchens befragt wird, soll er sich zu seinem persönlichen Werdegang äußern. Einen Beruf habe er nicht erlernt, so der Mann, der eines von 16 Geschwistern ist. »Ich habe ja meine Krankheit seit dem 12. Lebensjahr. Ich habe hin und wieder gebettelt, um mich davon zu ernähren.« 15 Jahre zuvor sei er »von der damaligen Regierung sterilisiert« worden.
Am Mittwoch dem 20. Mai, sei er zu seiner Frau auf den Kuttelhof gegangen, mit der er trotz der Scheidung »immer noch geschlechtlich verkehre, soweit ich den Geschlechtsverkehr aufgrund meiner Sterilisation ausführen kann«. Am betreffenden Tag sei er von 17 bis 21 Uhr bei ihr gewesen. Er habe danach seine Frau ein Stück auf ihrem Weg zur Arbeit begleitet. »Anschließend bin ich zu meiner Mutter gegangen, in die Leipziger Straße, wo ich wohne.« Ein kleines Mädchen habe er nicht getroffen.
Da der 46-Jährige weder schreiben noch lesen kann, wird ihm das Protokoll vorgelesen. Die Überprüfung seines Alibis ergibt, dass er mit dem Verschwinden der kleinen Helga nichts zu tun haben kann.
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